[multer] im Klangraum Phönix, Dortmund, 28.05.2004

Mit [multer] bewegt man sich in Grenzräumen - auf der musikalischen Landkarte, in den klassischen Genrekartographien des künstlerischen Ganzen wie auch im eigenen Gedankenatlas. Zwar stehen [multer] noch nicht hinter dem Schlagbaum, der dem jahrzehntelang popsozialisierten Individuum signalisiert: "Bis hierhin und nicht weiter! Andernfalls zerstört dies ihre Hörerfahrung!" Aber man hat die ersten Schilder passiert: "Achtung! Sie verlassen jetzt…" Der Körper reagiert auf diese Hinweise mit Anspannung und der Frage: Was erwartet mich?

multerKonzerte mit elektronisch-experimenteller Musik folgen einer anderen Logik als die typische Frontalbeschallung und -belustigung zur Defrustation veralltagter Menschen. Vor rund Hundert Menschen spielten [multer] am letzten Abend des Klangraums Phönix im einstigen Reserveteillager des ehemaligen Stahlwerkes. Und nichts illustriert besser, dass sich deren Musik eben nicht diesen antiken Kategorien unterordnen lässt, als der teils unsichere und verstörte Applaus zwischen den ineinander übergehenden Stücken. Als [multer] - wie auch viele andere Artisten während des Klangraums - anfingen zu spielen, deutete zwar die Visualisierung an drei Weißwänden des dunklen Raums den Beginn an. Doch zumindest der noch genreunerfahrene Zuhörschauer brauchte Zeit, um das nostalgische Konzertideal aus seiner Imagination zu vertreiben. Und erst dann konnte sich die Faszination dieser Musik voll entfalten.

Klangflächen und minimalisierte Rhythmen bestimmen den Sound von [multer]. Darüber erheben sich Klang-, Noise- und Sprachsamples, Loops oder Soundimpressionen und -expressionen von Gitarre und Synth. Jedoch ist der klassische Instrumenteneinsatz kaum noch auszumachen - hier wird nicht oder nur selten geklimpert, gezupft oder geschlagen, sondern kompositorisch gereimt. multerAuch die Gitarre dimmt sich meist in den Sound hinein und zerlegt ihn nicht. So fließen die einzelnen Stücke dahin wie ausgedehnte, assoziative Soundgedichte oder wie ein mal spazierender, mal eher herumirrender stream of consciousness. Songstrukturen sind fast vollständig aufgelöst, nur gelegentlich findet sich mal so etwas wie eine "Bridge" (eigentlich verbietet sich dieser Ausdruck hier), um von einer ersten in eine zweite Phase überzuleiten. Eher rhythmisch schleichend rollen Wellen auf, die jedoch nur selten branden, sondern im Kies auslaufen.

So füllt die Musik von [multer] einen assoziativen Klangkörper, in dem es sich individuell gedankenspielen lässt. Und die Namen der Stücke wie [alandar], [kopenhagener deutung], [myosin], [subdruese (bewegt)], [neskt], [columbus] oder [goldkugelkaktus traeumen] befördern diesen Eindruck.

multerEbenso die Visualisierungen, die einen begleitenden Grenzgang zwischen Musik, Film- und Digital-Kunst repräsentieren. Denn so sehr die Musik von [multer] auch für sich steht und Bilder heraufzubeschwören vermag, so sehr ist sie doch live auf die korrespondierenden Visualmontagen angewiesen. Nicht, um dem Zuhörschauer Assoziationen aufzudrängen. Dazu sind die Visualisierungen zu digitalsurreal und unspezifisch. Sondern um sie im entemotionalisierten öffentlichen Raum, in dem man sich hier bewegt, erst zu ermöglichen. Wer schließt hier schon bewusst die Augen, um sich einer Ideenkette hinzugeben? Doch das bewegte Bild zur Musik löst wie ein Katalysator eben diesen Prozess aus, der bei einem wolkenhaften Schleier zum dumpfen Bump auch schon mal an Bombeneinschläge denken lässt. Oder bei schemenhaft vor öffentlichen Telefonen vorbeihuschenden Gestalten an die Einsamkeit der Großstadt. Davon lebt jene öffentlich dargebotene elektronische Musik um so mehr, die sich nicht der unbedingten Tanzbarkeit oder "echtem" Gesang verschrieben hat. Und gerade das macht in Kombination mit den Klangwerken auch die Faszination eines Konzertes von [multer] aus.

multer

Hinter [multer] verbergen sich mit Thomas K. Geiter (synthesizer), Mal Hoeschen (beats/noises) und Hellmut Neidhardt (amps & guitar) zweifellos drei der interessantesten Köpfe der hiesigen Grenzregion, die zudem mit dem Genesungswerk ein eigenes Label ins Leben gerufen haben, das sich der elektronischen Musik verschrieben hat. Man sollte sich eines der seltenen Konzerte der Band nicht entgehen lassen und sich auch deren Tonkonserven widmen. Denn: "Achtung! Sie verlassen jetzt die tote Mitte und erreichen die spannenden Grenzgebiete."


Links:
www.genesungswerk.de (Band und Label, Mailorder)
www.klangraum-phoenix.de


Bilder: MatsB