Reggae - Sound Systems und Produzenten

Die sogenannten Sound Systems sind bis heute der Sockel der jamaikanischen Musikindustrie. In den 1950er Jahren, als die ersten Sound Systems entstanden, handelte es sich zunächst um einen Plattenspieler, einen Verstärker, mächtige Boxen und ein Mikrofon für den Sound Man. Alles auf der Ladefläche eines LKWs. Eine mobile Diskothek.

Findige Geschäftsleute kamen auf die Idee, den Menschen die neuesten R’n’B Singles vorzuspielen und Eintritt dafür zu verlangen, da die meisten Jamaikaner kein Geld besaßen, um sich Platten, geschweige denn einen Plattenspieler zu kaufen. Die Betreiber der Sound Systems zogen dazu eine heiße Show in abgefahrenen Kostümen und mit selbstverliehenen Adelstiteln ab, und schnell etablierten sich „Blues Dance" genannte Veranstaltungen als feste Größen der Freizeitbeschäftigung in den Ghettos der Hauptstadt Kingston.

Die Anzahl der Sound Systems stieg ständig. Je exklusiver die gespielten Scheiben, desto größer der Zuschauerzuspruch und natürlich der Verdienst. Aus Angst vor Spionage kratzen die Sound System Besitzer die Label von ihren heißesten Pferden, sprich besten Platten, oder versahen die Platten mit falschen Etiketten. Immer häufiger kam es zu „Sound clashes", wenn zwei gegnerische Sound Systems an benachbarten Straßenecken versuchten, durch die besten Platten und die größte Lautstärke die Tänzer in ihren Bann zu ziehen.

Draufschreiben was drinsteckt

Doch schon bald schien die Zeit der Sound Systems vorbei zu sein, denn am Ende der Dekade kam kein Nachschub an guten R’n’B Singles aus den USA (Geschichte des Reggae). Die Ära des R’n’B war vorbei. Was das Aus für die rollenden Discotheken zu sein schien, entpuppte sich als der entscheidende Anstoß für die Entwicklung einer eigenen jamaikanischen Musikindustrie. Die Sound Men ergriffen die Initiative und gründeten eigene Aufnahmestudios, wo immer es möglich war. Diese Studios kreierten einen neuen Sound (Geschichte des Reggae) und gaben hoffnungsvollen, einheimischen Musikern und Sängern eine Chance im Musikgeschäft. Bald war es unter den Studiobesitzern üblich, am Wochenende Talentschuppen abzuhalten, die von den jamaikanischen Jugendlichen massenhaft wahrgenommen wurden, und aus denen viele der späteren Reggae Protagonisten hervorgingen (Bob Marley).

Zwei Männer der ersten Stunde waren Clement „Coxsone" Dodd mit seinem „Sir Coxsone Downbeat" Sound System und Duke Reid mir dem Sound System „The Trojan". Sie stiegen 1959 in das Produktionsgeschäft ein. Wenige Jahre später gründete Coxsone Dodd das legendäre „Studio One", Duke Reid das nicht minder berühmte „Treasure Isle Studio". Bis Mitte der 60er Jahre dominierte der Studio-One-Sound die Insel, das Treasure Isle Studio übernahm die Führung mit dem Wandel der Musik zum Rocksteady (Geschichte des Reggae). Lediglich Prince Buster und der Chinese Leslie Kong konnten Dodd und Reid in den 60er Jahren als Produzenten zeitweilig Paroli bieten.

Viele ehemalige Sound Men wurden nun zu Produzenten, und damit bis heute zum wichtigsten Bestandteil der Musikindustrie auf Jamaika. Sie engagierten die Musiker, die den Song einspielten, den talentierte Sänger mit dem Vokalpart abrundeten. Mit wenig Geld speiste die Produzentenriege Musiker und Sänger ab. Das magere Entgelt beinhaltete sogar die Rechte an dem Song, so dass außer dem einmaligen Session-Honorar keine weiteren Tantiemen fällig wurden, egal wie erfolgreich der Song wurde. Das begünstigte eine andere Entwicklung, die typisch für das jamaikanische Musikbusiness werden sollte und durch die Einführung der Mehrspuraufnahme, d. h. die Möglickeit zur getrennten Aufnahme von Musik und Gesang (Dub, DeeJays und Dub Poetry), ab 1968 ihren Anfang nahm. Das Grundgerüst eines Songs, der „Riddim", konnte beliebig oft verwendet werden. Der Produzent versah seinen Riddim mit immer neuen Gesangsparts, machte aus guten Riddims und „frischem" Gesang unzählige neue Platten. Dieses Verfahren mag für europäische Hörgewohnheiten fade, langweilig und einfallslos erscheinen. Doch wird gerade dieses jamaikanische Recyling von Musik von einer unglaublichen Kreativität und einem Feuerwerk von Ideen begleitet, vorausgesetzt der Riddim besitzt die gewisse Unsterblichkeit. Wer einmal ein gutes „One-Riddim-Album" (LP/CD mit mehreren Versionen des gleichen Riddims) gehört hat, wird zunächst oft nicht bemerken, dass es sich um ein und die gleiche Basis handelt, so vielfältig klingt es. Von King Jammys „Under me Sleng Teng"-Riddim, mit dem 1985 die Phase des digitalen Reggae eingeläutet wurde, soll es sage und schreibe über 400 (!) Versionen geben.

Die Produzenten prüfen ihre Riddims vor der Vervielfältigung auf Herz und Nieren. Von der Aufnahme wird zunächst ein Unikat aus Acetat - das sogenannte Dub-plate - angefertigt und dem Publikum im eigenen Sound System vorgeführt. Erst wenn das Votum der Öffentlichkeit positiv ausfällt, kommt das Dub-plate ins Presswerk und wird auf Vinyl vervielfätigt. Andernfalls wird sie wieder eingestampft. Die Musik ist somit einem ständigen Kommunikationsprozess unterworfen und reagiert direkt auf die Bedürfnisse der Konsumenten. Ein in der Musikbranche einzigartiger Vorgang. Musikalische Demokratie in Reinkultur. Das hat zur Folge, dass der Musikmarkt auf Jamaika heute noch von der Single (7 inch) beherrscht wird. Die Langspielplatte ist ein Produkt der westlichen Musikkultur, das dem Reggae übergestülpt wurde und auf Jamaika keine Tradition hat. Viele der Reggae-LPs/CDs sind lediglich Zusammenstellungen von Hitsingles.

Der Singlerohling - Beginn einer großen Karriere

Die tragende Rolle der Produzenten hat in der Geschichte des Reggae und seiner Vorläufer dazu geführt, dass Phasen oder Spielarten des Reggae untrennbar mit den Namen einzelner Produzenten verbunden sind. In den Anfängen waren es Coxsone Dodd und Duke Reid, die ausklingenden 60er und der Beginn der 70er standen im Zeichen von Bunny „Striker" Lee und dem genialen Lee „Scratch" Perry, der den frühen Reggae nachhaltig beeinflusste und auch heute noch zu den kreativsten Köpfen im Reggae zählt. Mitte der 70er Jahre, zur besten Zeit des Roots Reggae, stieß JoJo Hookim in die Phalanx der führenden Produzenten. In dem von ihm und seinem Bruder aufgebauten „Channel One Studio" wurde der neue Sound namens Rockers geboren, an dem maßgeblich auch die damalige Rhythmusgruppe Sly Dunbar und Robbie Shakespeare beteiligt war. Sly & Robbie nutzten wenige Jahre später selbst dieses Studio, um sich in der Topproduzenten-Garde zu etablieren. Der Beginn der 80er Jahre mit dem Wandel des sozial und politisch engagierten Roots Reggae zum Spaß und Lebensfreude vermittelnden „Dancehall"-Style bestimmte der junge Produzent „Junjo" Lawes. Die Hinwendung zum Computer-Reggae vollzog sich seit 1985 (s. o.). Raggamuffin, der neue Sound, wurde zunächst von King Jammy angeführt. Der Sound wurde noch spartanischer und härter. Er nannte sich nun Ragga und von dem Produzentenpaar Steely & Clevie dominiert, die den Sound bis in die 90er Jahre bestimmten, zusammen mit Leuten wie Winston Riley und Bobby Digital, der seine größten Erfolge mit dem Grammy-Gewinner Shabba Ranks feierte. Seit Beginn der 90er Jahre ist jedoch eine Rückbesinnung des Reggae auf seine alten Werte erkennbar. Diese „Consciousness"-Bewegung wurde getragen von Produzenten wie „Fattis" Burrell und Richard Bell, die mit King Jammy, Danny Brownie, Bobby Digital, Steely und Clevie, Black Scorpio die Spitze der Produzentenriege bildeten.

 

Fotos: Katja Helten

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