Eine spärlich gefüllte Halle, Frauen mit Sarah-Palin-Steckfrisur, Typen, denen häufiges Sinnieren über Wohnformen für Senioren bereits tiefe Furchen ins Gesicht gegraben hat und ein altgewordener Capuccino, der mich daran erinnert, dass ich selbst schon wie mein eigener Opa aussehe. Es hätte also wirklich ein scheiß Abend werden können.
Es ist das Verdienst der Kantine, dass es nicht so kam. Der Band gelang es, dass anfangs auf der Brust schwache Auditorium auf eine Betriebstemperatur zu bringen, die zwar nicht zum Kochen führte, aber zumindest für Abtötung von Keimen reichte. Was im fortgeschrittenen Alter der anwesenden Fans keinesfalls zu unterschätzen ist. Das ist nur zu schaffen, wenn eine Band nicht nur eine Band ist, sondern auch ein Haufen außergewöhnlicher Individualisten. Jeder ein Sternekoch an seinem Instrument. Beispielsweise Drummer Dirk Erchinger, der seine Felle mit einer druckvollen Eleganz bearbeitet, die ihn zum Henry Maske des Schlagzeugs macht. Sein Bruder Disco-Jan-Heie, der Meister aller Tastentöne zwischen Melancholie und Wahnsinn. Der Mann mit dem langen Atem: Sax und flute, der Flötenschlumpf York. Tom Benneke im Totengräberlook trägt seine Gitarrenkunst nicht zu Grabe, sondern stellt sie Gott sei Dank zur Schau. Trompeter Christian Winninghoff riskiert richtig dicke Lippe und am goldenen Weihnachtsbass arbeitet sich Christian Eitner ab, der zudem unter Beweis stellte, dass an ihm auch eine echte Rockröhre verloren geht. DJ Air Knee, der Plattenkratzer, der zwar nicht an Gewicht, aber auch nicht an Fähigkeiten verloren hat und Vokalisten wie Capuccino, Louie und Tachi, die nicht nur singen und rappen, sondern den Leuten auch eindringlich vermitteln können, dass sie jetzt verdammtnochmal Spaß haben sollen.
Unter diesen Voraussetzungen fiel es der Kantine leicht, sich mühelos durch alle Genres zu spielen. Im Mittelpunkt standen die Songs des neuen Albums "Hell's kitchen". Respektlose Coversongs alter Heavy-Metal-Kracher im Jazz- und Swing-Gewand wie "Highway to hell", Motörheads "Iron horse" oder Balladen wie "Nothin' else matters" von Metallica. Manchmal in genialer Kombination mit Kantineklassikern wie beim Medley von "Krankenhaus" und RunDMC/Aerosmith' "Walk this way". Auch Fachfremdes liegt den Jungs aus Braunschweig. Die Version von Van Halens "Ain't talkin' bout love" als Reggae-Persiflage ist genauso meisterlich wie die 1a-Soca-Variante des Jazzkantine-Hits "55555". Den Höhepunkt des Abends fand sich allerdings schon in der Mitte der 140 Minuten. Ganz großes Kino bei der Version von "Take five". Diesem Stück wird man nicht gerecht, bezeichnet man es schnöde als Cover. Vielmehr muss man sich an der Klassik orientieren und von Variationen zu einem Jazzstandard sprechen.
Sollte aus dem bisher Gesagtem etwas wie Euphorie klingen, ist das leider nur eine Seite der Medaille. Denn bei allem Spaß blieb ein fader Nachgeschmack. Erschreckend stellt man fest, dass es erst zehn Jahre her ist, dass die Jazzkantine vor 3000 Menschen in der Turbinenhalle in Oberhausen zu bewundern war. Die große Zeit der Kantine scheint vorbei. Es liegt jedoch nicht am Können der Jungs, eher hat sich das Konzept überlebt. Es gibt ein Nachwuchsproblem bei den Hörern. Es besteht die Gefahr, dass man bald nicht anders wahrgenommen wird wie eine Oldie-Party im Festzelt Wenholthausen. In zwei, drei Jahren wird die baldige 50+-Crowd in der Zeche ihre kuscheligen Filzpantinen einem Kantinenkonzert vorziehen. Das hat die Truppe nicht verdient. Es muss was passieren, sonst ist der Ofen aus.
www.jazzkantine.de
Foto: Pressefreigabe