20110510


Geschichten aus der Todeszelle
»Da gibt's so ein Spektrum an Leuten, so Schicksale und so ... Vielfalt, weis'se?« Der Gnom kann's nicht lassen.
Ich bin wieder in der Schamhalle. Stelle die PP zur Rede, die Frau, DIIIIEEE FRRRAU, die alles ist.

"Warum tun Sie mir das an?«, frage ich sie, »ist das hier ...«, ich deute auf meine angewinkelten Gebeine, »nicht genug?«
Aber die Treppen wäre ich doch eigenhändig hinabgestiegen, redet sie sich hinaus, war das denn nichts?
»Und, das ist unverkennbar, es wird immer schlimmer mit Ihnen Herr ...«, sie sucht meinen Namen, findet ihn nicht, selbst meinen Namen hat sie vergessen, da kann sie mich auch gleich schlachten wie ein Kaninchen, denke ich.
»Was soll ich denn tun?«, fragt sie, »Sie sind nun mal in dieser Situation, in dieser speziellen Situation, die man gemeinhin DAS ENDE nennt. Ihr kleines Leben ist abgespult. Und da ist ... da ist keiner, der auch nur ihre Hand hält ...«, sie ergreift meine Hand, umschließt sie mit ihren beiden, schaut mich an.
Sie hat warme Hände. Ganz heiße Hände sogar. Ich weiß nicht mehr, ob ihre Hände auch heiß gewesen waren, als wir den Treppenhausschacht hinabgestiegen sind. Diese Attrappe von Treppenhausschacht. Ich bin nie hinabgestiegen, weiß ich nun. Nie eingetaucht in etwas Tieferes, habe die Sache hier nie durchdrungen. Ich will meine Hand zurückziehen, aber ich kann nicht. Selbst als ich mir einrede, dass auch ihre Hände nur aus Plastik sind, kann ich nicht. Da ist ja sonst nichts, eher gesagt sonst niemand, wir haben ja nur uns, und wie ich das denke, wird meine Hand noch kälter, mir wir noch kälter, obwohl dieser Raum, diese vermeintliche Halle, gut beheizt ist. Natürlich gut beheizt, wir sind ja im Heizungskeller, niedrige Decken, überall mit Silberpapier ummantelte Rohre, aus denen Steinwolle rausquillt. Eng ist es hier, überall Gerümpel, Pappkisten, technische Geräte, schmutzig, ölig und schlecht beleuchtet.
»Ich will hier raus ...«, sage ich, sage es ganz leise, fast murmelnd und eher zu mir als zu ihr. Dann lege ich meine andere Hand, die linke, auf ihren Bauch. Auf den Saum, die Knöpfe ihres Kittels, ich möchte mit der Hand dazwischen fahren, wage es aber nicht, besser die Hand auf dem Kittelstoff lassen und den Bauch nur erahnen, also keine wirkliche Berührung.
»Was machen Sie nur, was machen wir nur ...?«, fragt sie sinnierend. »Sie haben sich vernannt. Eine fixe Idee von einem 'Draußen', wo man hingelangen könnte, wie ein ewiges Leben, ein Glücklichsein. Aber hinter diesen Wänden ist nichts.«
»Und die Schmetterlingsmenschen?«
»Die ...«, sie lässt meine Hand los. Hätte ich nur nichts gesagt. Aber meine Linke lastet noch auf ihrem Bauch.
Sie schaut mich an.
»Die Nymphaliden meinen Sie? Das ist eine Legende. Ein Märchen, Stoff für einen Roman, mehr nicht.«
»Kennen Sie die Geschichte?«, frage ich.
»Ach wo, irgendwas von unsterblichen Menschen, die sich am Ende ihres Lebens in Schmetterlinge verwandeln, so ein Quatsch, AM ENDE ist immer noch am Ende, oder? Ich meine, Schmetterlinge leben doch nur ein paar Tage, dann ist's vorbei. Das Leben des Schmetterlings findet als Raupe statt.«
»Aber man sagt, dass sie sich nicht mehr verpuppt haben. Dass sie für immer Raupen geblieben sind. Und dass sie DAS unsterblich gemacht hat!«
Sie lacht. »Um welchen Preis? He? Um welchen Preis?«
Ich nehme meine Hand von ihrem Bauch, will gerade meinen Kopf darauf stützen, da fasst sie diese meine Hand und führt sie zurück, legt sie, drückt sie wieder fest auf den Kittel, schiebt sogar den Spalt beiseite und führt meine Hand hinein, unter den Stoff, wo nichts mehr ist als Haut. Und die Naht ihres Schlüpfers, aus dem ein paar Härchen herausschauen. Ich lasse sie machen, meine eiskalte Hand liegt schließlich auf dem kochend heißen Bauch, der ein wenig zuckt.
Der Gnom räuspert sich.
»Da gibt es so Charaktere«, sagt er noch einmal.

Erschrocken zieht sie meine Hand wieder aus ihrem Bauch, dabei reißen zwei Knöpfe ab und klimpern zu Boden. Ich kann einen Ausschnitt der weißen Haut sehen. Den Gnom ganz vergessen, kein Wunder, so dunkel hier! Dann, bevor sie mein Handgelenk loslässt, presst sie mit einem komisch verzweifelten Gesichtsausdruck meine inzwischen zur Faust geballte Hand wieder drauf, nur um sie sogleich regelrecht von sich zu schleudern.
Pietätsvoll schaut der Gnom weg, aber nicht wirklich weg, er wendet sich direkt an den Leser, »so Charaktere, jeder ein Wollfaden, total wirr, und wie die so zueinanderstehen, und sich gegenseitig im Weg stehen, und der eine dem anderen den Fadenkopf abbeißt, auch so hintenrum und feige oder direkt mit der Mordwaffe, oder der eine verknäult sich mit dem anderen für die Liebe und all das, das ist dann ein schönes, vierdimensionales Bild, das ist dann Ästhetik.«
Der Leser schweigt, was soll er auch zu so einem Blödsinn sagen, er schaut lieber auf ihren Bauch und meint, er könne sich noch was erhoffen, aus der Situation, aber nein, nur ein wenig Hoffnung erhoffen, denn: »Komm heute Abend in mein Zimmer«, flüstert der Mann im Rollstuhl, und sabbergeiler Speichel fließ an den Mundwinkeln hinunter, nein, natürlich nicht, das wäre ekelig, denke ich, wieso denke ich immer so was?
Sie huscht davon.

»Na toll!« sage ich laut und drehe mich um.
Der Gnom unbeirrt: »Fassen wir das mal zusammen: A: Hinter dieser Kellerwand kommt nichts mehr. B: Schmetterlingsmenschen, die sich nicht verpuppen, sind unsterblich. Und C: Unsterbliche Wollfäden sind unendlich lange Wollfäden. Na ja, immerhin haben sie einen Anfang. Und A Index 1: Hinter dieser Kellerwand ist nur der Friedrich, der als Toter zu uns zurückkehren wird ...«
Der Gnom hat einen Vollknall.
Doch auch dem Mann im Rollstuhl ist dieser Keller unheimlich. Es riecht nach Öl. Es summt, und ein Druck auf den Ohren, puh ...
Hier haben sie ihn also gefunden, als er noch geglaubt hat, er wäre UNTEN DA.

>>> Kommentar der Polizeifrau: »Ich übernehm das mal hier. Der Kerl wird noch gemeingefährlich, wartet's nur ab.«