20111220

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Geschichten aus der Todeszelle
Zehn Tage später macht das Ei ein Geräusch.
Oder hat ein Gespinst die Putzfrau (den Leser?) aus dem Schlaf gerissen? Nein, das hohle Knarzen kommt von oben. Man sieht hinauf zu dem Ei. Im Widerschein des weihnachtlichen Adventskranzes, den die Putzfrau widerrechtlich auf dem Veloursteppichfußboden der von ihr okkupierten Zelle entflammt hat, wirft es seinen Schatten auf die silbrige, von Schwalbennestern, Spinnweben und Hausschwamm übersäte Haut der Zimmerdecke.
Nach dem Knarzen beginnt das Zittern. Der Kokon zittert und fast nicht hörbar, summt; an der Grenze zum Ultraschall. Die Fasern auf seiner Hülle vibrieren so rasant, dass sie nur noch als diffuser Nebel zu sehen sind. Die Kontur des Eis verwischt zu einem halb blinden Fleck im Raumzeitkontinuum. Das Summen, Surren wird lauter und der Klang tiefer. Es brummt.

Dann, schlagartig, alles ruhig. Das Ei schwebt. Reglos, über dem Leser, wie all die Tage. Aber etwas an der Unterseite weckt Aufmerksamkeit. Du reckst Dich nach oben. Eine kleine Beule, die sich langsam herausdrückt! Geh näher heran, um zu fühlen, was Du nicht sehen kannst. Streck Dich hoch, berühr mit dem Gesicht das Ding, riech es, schmeck es ...
Und plötzlich umklammert eine schwarze Hand Deinen Hals!
Zugespitzte Finger, wie eine Schlange aus der aufplatzenden Hülle herausgezischt. Als wärst Du ein Kaninchen. Die Hand würgt Dich und schwingt Deinen Kopf hin und her, schüttelt Dich, bis Du - losgelassen - umkippst wie ein Sack Holz.

Die PERSON, die hier beobachtet (Du, Leser), liegt wie der Mann zuvor im Dreck, auf Augenhöhe mit Tannengrün und Kerzenglanz, man reibt sich den aufgescheuerten Hals, das verrenkte Genick, jedoch: Du registrierst (nach Luft ringend), der Mann im Rollstuhl ist schwarz geworden (und ein Engel und eine Frau. Aber das später).

DU beobachtest den Arm, und die spitze Klaue, wie der Kopf eines gelenkigen Wurms lauernd umherkreisend. Und dann:
Die zweite Hand kommt aus dem Loch gekroch! Es folgen: Ellenbogen, die DAS LOCH auseinanderdrücken wie Schamlippen. Langsam. Sieh hin, wie die beiden Schattenspielschlangenarme miteinander spielen, die Spitzfingerköpfe sich küssen, und sie sich immer wieder ins Schattenspielschlangenspitzfingerkopfnest zurückziehen. Oder sich gegenseitig ihr schwarzes Klebriges trocken lecken. Derweil ein milchiger Schleimfaden aus dem aufreißenden Loch heraustropft und träge hinabsinkt und auf den Boden platscht, eine neue Pfütze inmitten der alten.

Irgendwann oder plötzlich sind die Schlangenarme verschwunden. Stattdessen presst sich eine nackte, glänzende Beule durch den Geburtskanal, von glasigem Schleim umspannt. Das gebärende Ei pulsiert, und in wehen, ruckartigen Bewegungen schiebt es einen blanken Schädel heraus.
Ein schwarzer Kahlkopf ist das und das Pulsieren zu Ende.

Die Augen des Kopfes sind geschlossen. Man scheint zu schlafen. Unbewegt hängt Kopf nach unten - wie tot und einbalsamiert. Kopf ohne Haare und obendran, weil verkehrt herum hängend, ein kurzer Hals, umschlossen vom gestauchten, ausgefransten Ringlippenwulst des Lochs. Man will DAS WESEN aus seinem Dottersack herausreißen, es wachschütteln! Komm, komm ins Leben zurück! Wäre es doch nur eine grässliche Fratze, ein Fremdes, was da herausgekrochen ist, man würde es ertragen. Aber dieses über alles vertraute Gesicht?

Der Schleim tropft ab und nur der Schatten von Kopf (reglos hängend) bewegt sich im flackernden Licht des Feuers. Du dagegen rührst Dich gar nicht. Du starrst auf das schlafende Gesicht, die dunkle Haut, schaust zu, wie sie beim Trocknen ihren Glanz verliert. Aber obwohl Du den Blick nicht hast lösen können, musst Du plötzlich feststellen, dass Kopf Dich schon eine ganze Weile ansieht.

Große Augen; weißer Rand um schwarze Iris, darin ebenso schwarze Pupillen. Schwarz ist die Falterfarbe des Imago. Und ausdruckslos sein (mein) Blick: zugleich scharf. Und durchdringend. Kein Starren ins Leere - mein Blick durchbohrt Dich wie ein Spieß, fixiert Dich, verstopft Dir die Eingeweide. Erkennen wir uns?

Du wünschst Dir, an mich gedrückt zu sein, eingeschnürt in ein Korsett aus neuen Brüsten und alten Armen, ein Korsett, das sich enger und enger um Dich zieht, bis Deine Knochen brechen. Was von Dir herausquillt, ist eine Qualle: Dein gallertartiges, in der Luft wie ein Ballon schwebendes Gehirn, und darunter, an einem Blut- und Nervenstrang baumelnd, Dein Herz. Roh. PADUMM. PADUMM. PADUMM.

Tage später, jedenfalls Stunden später, gleiten, vielmehr quetschen sich die Schlangenhände wieder hinaus. Links und rechts an Kopf vorbei, streifen sie die schmalen Ohren und legen sich unterhalb des Schädels aneinander, als wollten sie köppern und in die Pfütze eintauchen. Oder beten. Weder noch bewegen sie sich windend wie schwimmend, sogar tanzend hin und her, lösen sich schließlich voneinander und schwingen im weiten Bogen links und rechts hinauf zum Kokon, wo sie sich in dessen halb Kunst- halb Echtlederhaut verkrallen.

Pause. Der Frau gewordene Mann hängt still, Kopf unten, und sein einst gehasster Körper steckt noch immer im ovalen, bauchigen, eingeknautschten Gebilde (ehem. Ei), das viel elastischer ist, als man geglaubt hätte.

Der Mann (die Frau) krümmt sich hoch, zeigt uns seinen (ihren) Flügelrücken, drückt das Gesicht in den Dottersack und zieht sich mit angespannten Muskeln (was für Muskeln!) daran nach oben. Der Oberkörper (nochmals: was für Muskeln!) gleitet aus der offenen Wulst - mit Flügeln eines schwarzen Engels. Nass und gefaltet. Wie zwei lange, schwarze Seidentücher verkleben sie den Eiweißrücken. Ihre freien Enden stecken noch innerhalb des Kokons. Die befremdliche Größe der Brüste, die sich bei dieser Haltung auf dessen Hülle pressen, kannst Du dagegen nur erahnen.

Mit kräftigen, nachgreifenden, hühnerfüßigen Händen zieht die Mannfrau sich auf feuchter Schleimhaut nach oben. Schon habe ich meine Hüften freigelegt - und die langen Flügel komplett. Die fallen platschend hinab; wie tropfnasse Lappen schwerfällig hin und her baumelnd. Ich kriechwinde mich das Ei hinauf, das immer leerer und schlaffer wird und zuletzt wie ein leerer Beutel hängt. Und da, wo meine Klauen zugepackt, eingerissen und zerfurcht.

Meine Hände erreichen den an der Decke klebenden Gummitentakel und umklammern ihn. Noch ein letzter Ruck; dann bin ich frei (glaubt der Mann, ehem.  M.i.R., für einen Moment tatsächlich!).: Ich
- hänge mit angewinkelten Beinen in den erschlafften Häuten des Kokons,
- presse meine klauenartigen Füße in das Gewebe,
- lauere wie ein Reptil auf Beute und
- bewege den Kopf witternd hin und her.
Bis ich Dich erneut mit Blicken fixiere.

Das Tier zieht sich ganz (frei) hinauf und hockt auf der Spitze des Eis. Dabei umklammert es mit den Fußklauen den schwarzen Tentakel, umschließt ihn zwischen den Beinen mit den Fingern; penisgleich. Er/Sie/Es/ich: Erstarrt zur Gottesanbeterin. Die transparenten Flügel gewinnen an Kontur und fächern sich auseinander. Im Zeitlupentempo, angestrahlt vom Feuer, das diabolische, fluoreszierende Schatten auf die Zimmerdecke wirft.
...
Die Sonne geht im Fenster auf.
Sie trocknet einen stummen Schmetterling.

 

>>> Kommentar der Putzfrau, die zehn Tage (so lange braucht die Metamorphose des Nymphaliden) ausgeharrt hat: »Ein sogenannter Hämorrhoidenfalter.«

Da ruft der Wärter den Totdienst.