20110920


Geschichten aus der Todeszelle

Der Affe (ist das der GNOM?), erst jetzt erkenne ich ihn. Adorno!
»Du alter Affe!« (zärtlich)
Wir gehen einen trinken. Wie früher, als wir einander noch nicht kannten. Adorno sieht noch schlimmer aus, als ich ihn in Erinnerung habe.
»Wie bist DU da raus gekommen?«
»Wie Du. Im selben Moment, als die Tür noch offen war, und sofort weg. Die haben mich dann einfach laufen lassen.«
»Ich dachte ... Und der Friedrich?«
»Der ist doch tot. Schon lange. Kopf ab oder so ...«
»Giftspritze ...«
»Ja ja, Giftspritze ...«
»Wir haben uns die Zelle geteilt!«
»IHR?«
»Nach seinem Tod. Der Friedrich hatte die Gestalt vom Zivi angenommen ...«
»Du spinnst!«
Ich sage nichts mehr. Wie beschränkt der Philosoph doch ist. Blöder.
Wir sagen beide nichts. Männer.
Sitzen, Trinken, Schweigen. Männer.
Die Gedanken schweifen ab. Rosea, das Meer, Fischbrötchen. Dann: Feuer! Das Haus! Das brennende Haus! Und am schlimmsten: ihre Schreie!
...
Am Nachbartisch ein hübsches Mädchen. Wie man's sich wünscht. Ein dunkler Typ. Schwarzes Hochglanzhaar, meterlange Wimpern und Schminke, bis der Arzt kommt. Weiße Zähne mit einem Hauch Zigarettenbelag. Aber sie flirtet nicht mit einem. Sie telefoniert. Die ganze Zeit. Auf einheimisch. Manchmal versteht man ein Wort, einen halben Satz.
Wegen ihrem Kerl. Dummes Zeug.
Das galt nicht ihr. Nur der allgemeinen Situation.
...
»Gehen wir«, sagt Adorno drei oder mehr Bier später. Es dämmert schon tagwärts. Wir gehen. Adorno zahlt. (»Ich dachte, DU hättest Geld!«)
Wir nehmen ein Taxi. Ich habe keinen blassen Schimmer, wo wir sind. Doch der Gnom ist ganz entspannt. Sitzt vorne, dirigiert den Fahrer mit den Worten eines Mannes, der die Welt kennt.
»Klinik!«, sagt der Gnom und meint den Todestrakt. Das ist Tor Acht.
»Tor Acht?«, fragt der Fahrer. Ja ja, wir wissen es.
Deswegen hat mir also keiner aufgemacht. Unten, an der Bundesstraße.
Und dann, an einer Ampel, die Überraschung:
Der Taxifahrer dreht sich um und siehe, es ist der Henker! Das ist der Henker! Mein Henker! Der mit den Händen!
»Und Sie ...?«, sagt er zu mir.
Was »und Sie?« Worüber reden die?
»Abeiden Ssie nich' in'er KLINIK?«, frage ich zurück. Meine Alkoholzunge liegt schwer.
»Ach ja ...«, Seufzen. Job weg oder so. Ich kann's mir denken. Der hat's nicht mehr ausgehalten.
Am Tor Acht steigt man mich aus. Rollstuhl auseinandergeklappt, passt, wackelt und hat Luft. Adorno steigt wieder ein und weg sind sie.
Tor Acht.
Eine Wand aus Urgestein.
Ich bin besoffen, total verdreckt und stinke nach Affe. Wenigstens keine Kotze im Schoß. Nur Pisse. Eingenässt und nicht gemerkt. Hier ist sonst keiner, der rein will. Eine riesengroße Asphaltvorfahrt, Platz für Armeen von Busreisen, aber alles leer. Fahnenmasten, Mülleimer. Plastiktüten im Wind.
Der Pförtner in seinem Kabuff. Blauschwarze Uniform und eine ausgegangene Zigarette im Mund. Mindestens acht Bildschirme im Nacken, jede Ecke der Welt ausgeleuchtet. Davor: Schranke, Drehtür, mannshoch. Ich passe nicht durch die Drehtür. Er muss rauskommen, mürrisch, dann doch hilfsbereit. Letztlich froh, was TUN zu dürfen. Schranke auf, mich durchschieben und drinnen: Betonwände, Blechwände, Zäune, Stacheldraht. Türme und kein Baum. Unerreichbar ein strahlendblauer Himmel.
So kriegt man die Nacht rum, denke ich.
Und: endlich zu Hause.


>>> Kommentar der Putzfrau: »Oh nein ...«