UnMittelbar

unmittelbarHeute haben sie Chruszchow geholt. Zu sechst, so sehr hat der sich gewehrt. Ein schräger Typ war das, riesig und gewalttätig, ein Bild von einem Mörder. Hat mir immer erzählt, wie er sie umgebracht hat. Wahllos, egal, ob Frauen oder Männer. Hauptsache, sie waren allein unterwegs, irgendwo am Rande der Stadt, oder sogar in der Stadt. Wichtig war für Chruszchow, dass sie die Regel lernten. Die einzige Regel: Sei das Leben! Klingt seltsam aus dem Mund eines Mörders, aber das sagte er: „Sei es JETZT, HIER, so wie es ist. Das Leben als Distanz zum Tod, als ganz und gar MITTELBAR."  

Denn UN-mittelbar ist der Tod. Er ist die einzige, wirkliche Grenze, von der wir ganz weit weg sein wollen, immer weiter, weiter, weiter. Bloß weg, und doch nie wissend, ob ihr Verlauf nicht irgendwo eine verborgene Krümmung hat und man sie plötzlich, nichts ahnend, vielleicht sogar rückwärts, überschreitet.

Es war ihm zuwider, dass die Menschen, statt sich immer und immer wieder auf die unmittelbare Grenze zu konzentrieren, in stumpfer Selbstherrlichkeit den distanzschaffenden Dingen an sich so etwas wie einen eigenen, höheren Sinn gaben. Als hätte der neue Porsche, die eigene Scholle oder der Ledermantel irgendeinen anderen Zweck als hastig ein paar Zentimeter hinzulegen, Zentimeter, die immer gleich wieder zerrannen. Nicht ein Deut mehr ist das Leben als diese schnell wieder verlorenen Distanzgewinne gegen die unsichtbare Grenze, deren Nachrücken zu vergessen von Chruszchow, dem Lehrer des Lebens, bestraft wurde.

Er ist einfach hin, ist die Person seiner Wahl angegangen, so muss man es wohl sagen, "angegangen", einfach drauflos, gerempelt, bedrängt, und mag der eine oder andere anfangs noch geschimpft haben, sich gewehrt oder sogar mit Polizei gedroht, schnell schlug die Empörung in Angst um. Chruszchow war nicht dumm, ich habe ihn ja täglich gesehen, und seine Philosophie, die hatte was. Aber wenn es soweit war, dann wurde er kopflos, war nur noch selbst der Tod auf zwei Beinen, groß, kräftig, massig, in seinem dunkelgrauen Wollmantel. So ist er auf sie los. Und als die Angst kam, kam auch das Leben zurück. Sie flohen. Und dann war ER diese Grenze, plötzlich endlich sichtbar, endlich messbar, die ständig verborgen gewesene Distanz. Chruszchow folgte ihnen. Ist einfach schnell gegangen, wie einer, der es eilig hat, aber nicht nötig, zu rennen, nur schnellen Schrittes, tak-tak-tak-tak-tak...

Die Leute dagegen rannten, waren noch kopfloser als er, hasteten davon und hatten bald einen großen Abstand zu ihm. Aber er gab nicht auf, wurde auch nicht schneller, ging einfach stoisch und doch zügig hinterher. Und achtete darauf, von Anfang an, dass die Distanz messbar blieb, dass der Auserwählte nicht das endlich erlangte Bewusstsein vom Leben wieder verlieren würde. Chruszchow trieb sie immer in die richtige Richtung: in den Wald, in einsame Straßen, in Industriegebiete. Auch mal in ein Kaufhaus, durch ein Kaufhaus hindurch, wieder hinaus, weiter, ins nächste Kaufhaus, die Leute hatten schnell das überflüssige Denken aufgegeben, das Nach-Denken, denn es ging nur noch um die Distanz, weg und weiter, weg und weiter. Keiner fragte mehr nach dem Sinn oder einer besseren Strategie. Manchmal wähnten sie sich in Sicherheit, haben dann die Flucht gestoppt, froh, nichts mehr messen zu können, froh in ihren Stumpfsinn zurücktauchen zu dürfen - doch dann tauchte er wieder auf.

Hast du erst einmal Distanz aufgebaut, musst du jeden Zentimeter bewirtschaften. Die Karosserie, die Wände, die Fürsorge Deiner Lieben; alles was dir den unmittelbaren Tod vom Leib hält, kostet. Durchatmen, nichts tun, das geht nicht. Schon ist er wieder da. Der Chef, der dir kündigt, der Gerichtsvollzieher, der dir das Haus nimmt, der Scheidungsanwalt, und so weiter. Nicht anhalten, weiter, immer weg vom Tod, der hinter all dem lauert. Doch die Leute unterschätzen den Tod, das falsche Leben unterschätzt den Tod. Irgendwann kannst Du nicht anders und holst doch mal Luft. Und dann ist er da. Immer, für jeden, irgendwann.

So auch Chruszchow. Ein kopfloser Riese auf zwei Beinen. Nach vielen langen, sehr intensiven, sehr lebendigen Stunden, wenn die Leute nur noch Angst und Erschöpfung waren, keuchend, flennend, winselnd, dann holte er sie ein. Selbst in diesen letzten Momenten änderte er sein Tempo nicht. Tak-tak-tak-tak-tak lief er auf sie zu und machte sie tot.

Selbst heute soll er, nachdem man seinen wirklichen Kopf abgetrennt hat, aufgestanden und wie suchend zurück auf die Straße gelaufen sein. Tak-tak-tak-tak-tak ... als suchte er noch immer den messbaren Abstand zum Unmittelbaren. Kein Wunder, wir schaffen ja mit so einer Exekution nicht den Tod aus der Welt.

>>> Kommentar der Putzfrau:

Angst? Ein warmes Zuhause, zu essen und zu trinken, ein Klo, ein Bett, sogar die Geselligkeit der Nachbarzellen... <<<

Derhank, August 2009