Manchmal ist Inspektion. Vertreter der Verwaltung und der Politik wollen sich vom Zustand der Anlage überzeugen. Wegen der vorgeschriebenen Sauberkeit tragen sie weiße Gummihandschuhe, weiße Kittel, weiße Hauben und weiße, knautschige Überzieher auf den Schuhen. An diesen Tagen sind die Gänge zwischen den Zellen voller Menschen. Sie bilden dichte Trauben um die Funktionäre. Die lassen sich über jeden Insassen aufklären, sprechen über die Tat, das Motiv der Tat, die Ursache des Motivs und die Entstehung der Ursache, bis sie das ganze Leben erfasst haben, auf dem die Tat wie die Spitze einer Pyramide thront.
Ganze Stäbe von Referenten, Gutachtern und Beratern drängen sich an den Gittern und diskutieren mit ihnen und mit jedem, der zuhört. Das ganze Volk ist heute da. Ein in den Ohren flirrendes Tuscheln, Flüstern und Kichern hallt von den hohen Gewölben wider. Und weil es so voll ist, können nur die wenigsten zuhören, wenn im Zentrum der Menge gesprochen wird. Darum bilden sich auch an anderen Stellen Gesprächszirkel, beflissen, ernsthaft, und allesamt wollen sie die tausend Augen der Behörde sein. Aber da sind auch jene, die den Grund ihres Kommens vergessen haben. Sie sind stumm oder flüstern in hilfloser Ehrfurcht mit ihren Nachbarn.
Sehnsüchtig warte ich darauf, dass ich an die Reihe komme. Denn nur den wichtigen Damen und Herren will ich mich öffnen. Die Vorstellung, vor ihnen bloß zu liegen, ist Scham und Lust zugleich. Während ich warte, schauen manche aus dem Volk zu mir herein. Ihre Blicke sind seltsam strafend, obwohl sie doch kein Recht haben, meine Tat zu beurteilen. Doch es kann auch Neid sein, weil sie sich unbedeutend fühlen beim Anblick des Todes. Ihre Augen springen hin und her, vom Bett auf die Toilettenschüssel und von da auf den Tisch mit den Früchten, und es scheint, dass sie selbst den Anblick der Früchte nicht ertragen. Manche zeigen dann mit dem Finger auf mich und sehen sich wichtigtuerisch um. ich sitze auf dem Bett und versuche beiläufig zu wirken. Ich lese in einer Zeitschrift und scheine sie nicht zu bemerken. Ich fühle mich wie im Beichtstuhl des Doms, wo der Pfarrer mich als Kind gern betrachtet hat.
Das Warten auf die Wichtigsten dauert Stunden. Ich stehe auf und gehe unter den Blicken einer kleinen grauen Frau zur Obstschale. Auf ihrem papierglatten Gesicht kleben dünne Sommersprossen und ihre Augen schrumpfen in den Gläsern einer randlosen Brille zu winzigen, schwarzen Punkten. Ich spüre den Druck dieser Augen, auch wenn ich nicht hinsehe. Erst als ich einen Apfel greife, wird mir bewusst, dass ich sie nicht fürchten muss. Ich schaue hoch und sehe, wie sie von der in Bewegung geratenen Menschenmenge weg gedrängt wird. Doch sie verzieht noch ihre fein geschminkten Lippen und zeigt mir die gebleckten Zähne, auf denen ein Tee- oder Kaffeeschleier liegt. Nein, sie lacht nicht, sondern sie spuckt in meine Richtung, was sie wohl nie geübt hat, denn aus dem Mundloch sprühen viele kleine Tropfen, die hineinregnen und den Boden befeuchten. Auch das Obst und sogar mein Apfel werden nass. Ich lecke an ihrem Speichel und schäme mich dafür.
Als endlich, am späten Abend, die Inspektion bei mir ist, verberge ich mich noch immer unter der Decke - mit diesem Apfel, der nach ihr riecht. Ein Mann, den ich für wichtig halte, sitzt an der Bettkante, streichelt mir beruhigend über den Kopf und redet sanft auf mich ein. Doch ich weigere mich, ihm zu antworten. Lange Zeit später krieche ich dann doch hervor. Es ist mein Henker, der Einiges zu besprechen hat.
>>> Kommentar der Putzfrau:
Als ich heut kam, lag der unter der Decke, wie tot, ehrlich! aber mich fragt ja keiner. <<<