Sobald man das Ruhrgebiet verlässt, scheint die Deutsche Bahn es für nötig zu halten, internationale Ansagen zu schalten und auch das Zugteam begrüßt und verabschiedet sich – fast wie im Flugzeug – wenn auch mit einem zu meiner Belustigung sehr deutsch eingefärbten Englisch: "Sank you for trawellin wis Deutsche Bahn!" So komme ich dieses Jahr recht stressfrei mit nur einmal umsteigen nachmittags in Leipzig an. Und ein letztes Mal muss ich an die Erfahrungen des Vorjahres denken, wo wir per Auto wegen massiver Staus und schauriger Weltuntergangs-Wetterbedigungen ca. 11 Stunden gebraucht hatten. Unvergesslich bleiben aber die damals sich über der Stadt zusammen getürmte zuckend-blitzende Unwetterwolke, die bizarren Blitzlichtimpressionen der sächsischen Landschaft, ganz zu schweigen vom Aquaplaning und den sichtverhängenden Wassermassen, die sich vom Himmel ergossen...
Freitag, 9. Mai
Dieses Jahr war das Wetter traumhaft schön, auch wenn sich wieder allerlei düsteres aber auch buntes Volk angesammelt hatte. Nach Beziehen des Hotels wurde ich dann auch gleich auf dem Weg in die Stadt zurück – natürlich frisch gestylt – von einer (angeblichen) Satanistin zeitweise zugequatscht. Als nächster Programmpunkt stand das Erstehen des allgegenwärtigen Erkennungsbändchens auf dem Plan, damit endlich nach weiteren Bekannten auf dem Agra-Gelände Ausschau gehalten werden konnte. Am ersten Abend zog es uns in die verwinkelten Gänge und Gemäuer der Moritzbastei, die seit 1982 als das internationale Kulturzentrum Leipzigs gilt und sich zugleich als "größte Studentenkneipe in Deutschland" rühmt. Hier traf man dann auch weitere Szenegänger aus ganz Deutschland sowie internationales Publikum. Bei EBM und Noise direkt eintauchen in das Geschehen fiel nicht schwer. Auf dem Rückweg frühmorgens erzählte mir dann eine Flaschensammlerin ihre halbe Lebensgeschichte. Krasse Gegensätze sind aber zu Tagen des WGT wohl keine Seltenheit.
Samstag, 10. Mai
Wie könnte man einen Tag schöner beginnen als mit einem leckeren Kaffee und Frühstück am Tatort des Abends zuvor? Oberhalb konnte man dann auch noch den kleinen Mittelaltermarkt besuchen. Und dann auf zur ersten Musikveranstaltung an meiner Lieblingsbühne, der Parkbühne. Hat man erst einmal den etwas weiteren Laufweg überstanden, wird man durch die entspannende Atmosphäre in einer der idyllischen grünen Lungen Leipzigs belohnt. Natürlich muss man den Weg auch finden, aber immer der Masse nach klappt meistens und dieses Jahr erfanden wir das Motto: "Alle Wege führen nach Escape with ROMeo".
Tagsüber ist es angenehm zur Open Air-Stage zu pilgern, wenn auch die diesjährige Hitze allen – besonders den Künstlern auf der Bühne – zusetzte. Oben genannte spielten ein easy-listening Programm mit melodiösen Indie-Gitarren- und Keyboardklängen. Danach kam mein persönlicher Favorit des Tages, End of Green, die so etwa im Stile der 69 Eyes, aber mit verständlicherem Gesang und gehörigen Metalanteilen rockten. Allerdings kommen die Herren nicht aus Nordeuropa sondern aus Süddeutschland. Sänger … war zwar hochgeschlossen in schwarz mit Wollmütze aber zwei (!) Sonnenbrillen unterwegs. Merch hatte diese Band leider nicht dabei.
Als nächste stürmten unsere Lokalhelden Jesus on Extasy die Bühne um dann zunehmend die zahlreichen Besucher anzuheizen und eine ordentliche Show abzuliefern. Die Band wusste mit einer akustisch beginnenden Version des Covers "Second skin" zu überaschen, alte Hits wie "Assassinate me" und neue Songs wie z.B. "Stuck on you" schlugen bombastisch ein. Das Cover "Nowhere girl" kam sehr viel härter rüber und war die beste Variante, die ich je gehört habe. Leider fanden sie sich nicht mehr am Merchstand ein, wie eigentlich angekündigt.
Nach einer kurzen Pause mit Schwarzbier und leckeren Fingerfood Köstlichkeiten vom Grill (ich bat dann aber doch um ein nicht so schwarzes Steak…) ging es musikmäßig weiter mit dem Gothminister. Der hatte schwarzweiße schweißresistente Schminke aufgelegt und wäre vermutlich auf der Straße im Normaloutfit nicht wiederzuerkennen, witzelten wir herum zu den kraftvollen Elektrobeat-Tönen mit fetten Gitarren. Auch hier gab es eine gute überzeugende Show.
Szenewechsel:
bei Sonnenuntergang ging es auf zum Agra-Gelände. Flanieren,
sehen und gesehen werden war hier angesagt. Manchmal gab es auch was zu
lästern. Zwischendurch zum Shoppen oder einfach nur Staunen in die riesige
Agra-Verkaufshalle, wo es alles gibt, wonach man sich sonst die Hacken abrennt
oder was man umstaändlich im Internet bestellen muss und was dann vielleicht
nicht richtig passt… Hier hat man also alle diese Problem nicht. Besonders
lobenswert wäre heute auch noch der leckere Treffen-Met z.B. in den Geschmacksrichtungen
lieblich oder wahlweise auch Wikingerblut zu erwähnen.
Zwischendurch tanzten wir in den hinteren Reihen der gut gefüllten und aufgeheizten Agra-Halle ein wenig zu den EBM -Klängen der mexikanischen Combo Hocico, deren Mitstreiter mit lustigem Fantasiekopfschmuck aufwarteten und mindestens genauso viel herum sprangen wie das Fußvolk. Einfach nur hot, dieser Act!
Einen weiteren souveränen Auftritt lieferten an diesem
Abend die schwedischen Covenant ab,
die ihre Show mit der sich steigernden Sinustonvibration "20 Hz"
eröffneten, und bei der Stimmung auch drei Stunden hätten spielen können, denn
die Halle hat getobt zu Klassikern wie "Call the ships to port" und
anderen Hits. Als würdiges Midnight-Special beglückten Northern Lite die Zuschauer mit Gitarrensounds und Elektropop,
inzwischen ein wenig entfernt von früheren technolastigeren Songs.
Der Straftanz-DJ in der Moritzbastei machte seine Sache gut und sorgte für tanzbare Musik bis in die frühen Morgenstunden, zum Schluss hin alte 80s-Klassiker wie "Exposition" oder dem Abwärts-Hit "Alkohol", der da angibt: "keiner kommt raus aus diesem Haus, dieser Salon hat keine Tür". Man muss sie halt erst mal finden…
Sonntag, 11. Mai
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mir zwar viel vorgenommen, aber aufgrund erster Ermüdungserscheinungen gar nicht so viel geschafft habe… Man hätte ja zu der ein oder anderen Lesung, z.B. mit Myk Jung (The Fairsex) oder zum schwarzen Szene-Gottesdienst gehen können. Und erst zu Hause bemerkte ich, dass im Kleingedruckten auch Undercure als Act verkündet waren, die herrliche Cure-Cover mit deutschen Texten spielen, wobei der Sänger dem guten Robert doch ziemlich ähnlich sieht.
Gegen Abend ballten sich interessante Konzerte in den verschiedensten Musikrichtungen. Sehr lobenswert zu erwähnen wäre die lichtgewaltige Veranstaltung im Werk II – heute im Zeichen des tanzbaren Industrial mit Northborne aus Oslo, sowie Xotox und Straftanz aus NRW. Letztes Jahr hatten wir bei dieser Veranstaltung auch in der anschließenden Disco noch mächtig Spaß, aber heute stand doch noch die Agra-Halle als Treff auf dem Programm.
Hier überzeugten die aus LA weit angereisten London after Midnight mit ihrem schrägen Alternative bis Gothic Sound. Sean und Randy rockten wie nicht anders zu erwarten perfekt androgyn gestylt die randvoll gefüllte Agra-Halle. Der After-Midnight-Headliner sollte aber alles vorher Gesehene unschlagbar toppen. Mit was für einer Erwartung geht man zu Fields of the Nephilim, vielleicht dem ein oder anderen noch bekannt durch das legendäre "Moonchild"? Ich dachte so an "Hüte im Nebel", aber wusste gar nicht, wie Recht ich haben sollte… Um 1:00 betraten die Herren im abgewetzten Western-Style die Bühne und man hätte sie am liebsten auch nach knapp 1 ½ Stunden nicht gehen lassen. Mit sphärischen und bisweilen auch härteren, eher progressiven Klängen verzauberten sie die Massen (muss man schon sagen) und ich habe am ganzen Wochenende nicht einen getroffen, der nicht (zumindest jemanden kannte der dort war und) restlos begeistert war. Carl McCoys Stimme ist einfach der Hammer und kann einem schon mal einen richtigen Begeisterungs-Schauer bescheren. Was für ein fulminantes Ende für einen schlapp angefangenen Tag!
Montag, 12. Mai
Irgendjemand schafft es ja immer, einem die Planung durcheinanderzubringen. So war ich dann heute halt nicht bei den zahlreichen Verkaufsständen auf dem Agra-Gelände shoppen, statt eines Steaks bei Maredo gab's irgendwo auf der Bornaischen Straße Hähnchenschnitzel mit akutem Pommesmangel und gelber Soße (aber lecker!), ich verpasste den Goldenen Kompass im Kino, kam auch nicht zu einer Lesung, und ich wurde auch nicht Zeuge, wie der Sänger vom späten Parkbühnen-Headliner Christian Death (welche Formation spielte heute noch mal?) eins auf's Auge bekommen hat. Stattdessen war das erste Ziel früher als geplant erneut die Parkbühne. Als wir ankamen berichtete man uns, mit Übermutter hätten wir nichts verpasst und die Klänge von Gothik Logic hielten uns eh vorerst ab, das Gelände zu betreten. Als ersten Act gaben wir uns heute also die Metallspürhunde, die mit einer Coverversion vom Sterne-Hit "Was hat dich bloß so ruiniert" überzeugten. Diese wurde von der Keyboarderin etwas allzu zart vorgetragen, besonders im Gegensatz zu der Stimmgewalt des eigentlichen Sängers. Als nächstes sahen und hörten wir The Arch aus Belgien, die sehr engagiert und tanzbar das Publikum unterhielten und mit ihrem Hit "Babsi" an alte Zeiten erinnerten.
Szenewechsel:
Auf zu The Spook, die vor
vornehmlich illustrem Batcave-Publikum mit bis zu gut 50 cm hochgestylter
Haarpracht (mein Favorit-Iro war auf einer Seite blond und auf der anderen
schwarz…) im Werk II mit spaßigem
Horror-Punk aufspielten. Sie selber ordnen es auch unter Metal, Gothic, Rock
ein. Man rätselte, ob der Gitarrist Echthaar im Elvis-XXL-Style trug, oder ob es doch ein Helm war. Schön-schaurig,
ein bisschen an Rockabilly erinnernt ging die Band aus "Gravelands,
Karloffornia" dabei ab. Sänger Dean Roka schaffte die ständige geschickte
Gratwanderung zwischen Metalstimme und beeindruckender Melodienführung. Noch
mehr in Richtung Psychobilly / Rockabilly und damit auch zu spaßige Songs mit
gruseligen Themen gings dann mit Stellar
Corpses ebenfalls aus Kalifornien.
erneuter Szenewechsel: Diesmal wollte ich mir doch auch den Kohlrabizirkus geben, also schnell mal die Querverbindung mit der Bahn getestet (funktioniert tadellos und spart den Weg über den Hauptbahnhof) und rechtzeitig zu Spetsnaz eingetroffen. Die brachten das EMB- und Industrial-Volk – vorzugsweise gut trainiert und in Tarnhosen a lá Military-Style – zum energischen Tanzen. Etwaige Vorhaben, den Standort zu wechseln, nahmen somit an Gefahr zu. Nachtmahr, die besonders interessante Videoprojektionen plus statische Statisten als Background hatten, machten wahr, wofür sie insbesondere bekannt sind. Mit "Boom, boom, boom!" – Wie heißt es da so schön? "Ich habe nur ein einziges Interesse. Ob ihr lebt oder krepiert ist mir egal… Ich will euch tanzen sehen!" – und genau das wurde dann auch ohne weitere Verluste getan. Absolute Body Control hielten die gute Stimmung, wobei sie mehr auf elektronische Klänge setzten, und das Highlight waren dann natürlich Die Krupps, die viele ihrer bekannten Songs mit Live-power rüber brachten und dabei zusätzlich mit guter Lightshow aufwarteten. Die Kracher waren natürlich "To the hilt" und "Machineries of joy". Stahl auf Stahl, Musik dazu und fertig ist der krasse Krupps-Sound. Insgesamt ein spannendes, internationales und abwechslungsreiches Programm im rappelvollen Kohlrabizirkus!
Die Abschlussveranstaltung in der Moritzbastei mit bunten Tanzwütigen und lauten Noise-Klängen (auch mal was Neues als das in der heimischen Disco) brauchte letzte Kraftreserven auf, damit der Abschied nicht so schwer fallen sollte…
Dienstag, 13. Mai
Und schon wars auch wieder vorbei. Nach kurzer Nacht und leckerem Stop in bei den Bagle Brothers (sehr zu empfehlen) ging es auf zum Hauptbahnhof und ab nach Hause. Zum Glück traf ich in der Bahn noch einige WGT-Besucher und man plauderte nett über Gesehenes, Erlebtes und Verpasstes. So erfuhr ich, dass wohl auch die Oper "La Traviata" sehr zu empfehlen sei und dass der eigens für WGTierende reservierte Block in Glanz erstrahlte im Vergleich zu den anderen Besuchern, die an das Kleidungsniveau auf keinen Fall heran kamen. Abschließend gibt es nur noch zu sagen: Leipzig (und entgegen aller Gerüchte wird es wohl auch nächstes Jahr wieder das WGT dort geben) wir kommen nächstes Jahr wieder!
-Lady Reason-
Fotos von Hocico, Covenant und Northern Lite:
Daniela Vorndran (MySpace) oder www.black-cat-net.de