grünes tier /schrecklich neongrün

bild_mundschutz_breitseit stunden irre ich, allerdings, wenn ichs genau betrachte, und das ist wirklich erschreckend, schon seit etlichen tagen, in dieser düsteren gottverlassenen gegend umher und ich bin bisher noch auf keine menschenseele, noch nicht einmal auf einen hund oder wenigstens einen hasen gestoßen. die straßen sind leer und alle zivilisatorischen geräusche sind vollständig verstummt, kein motorengeräusch, keine quitschenden bremsen. tja, so schnell ändern sich die einstellungen. was früher ein permanenter störfaktor war, wird jetzt zum echten bedürfnis. ein bedürfnis nach lebendigkeit, in welcher form auch immer. aber nirgendwo sehe ich ein auto, eine straßenbahn oder wenigstens ein fahrrad. die menschliche fortbewegung scheint eingestellt oder ganz beendet worden zu sein. ich hoffe allerdings, dass das hier nur ein vorübergehender zustand ist; bald wird sich diese erschreckende leere wieder beleben, da bin ich mir sicher.


ich stoße die herumliegenden bretter beiseite und kämpfe mich zu einem hauseingang vor. überall dieser herumliegende, stinkende müll. ich meine, sie hätten wenigstens etwas aufräumen können, ein positives zeichen setzen, wenn sie sich schon nicht blicken lassen. oder mussten sie vielleicht überstürzt in panik fliehen, vor einem heranziehenden unwetter oder sonst einer schrecklichen bedrohung. das ist natürlich völlig übertrieben, alles nur spekulationen, die sich durch nichts beweisen lassen. also, ich werde weitersuchen, auch wenn ichs langsam satt habe in fremden wohnungen herumzulaufen und über allen möglichen mist zu stolpern. aber schließlich, man kann ja nicht ganz ausschließen, dass man doch noch irgendwo auf jemanden trifft. zum beispiel genau in diesem haus. das könnte doch durchaus möglich sein.

der druck auf den klingelknopf verursacht nicht das geringste geräusch. eine defekte klingel. das wundert mich allerdings nicht. ein umstand auf den ich bereits in anderen häusern gestoßen bin. möglicherweise hatten sie angst vor fremden besuchern oder mochten einfach ihre nachbarn nicht. also, ich werde wieder einmal klopfen. … hallo … ist hier jemand … hallo ... mh, offensichtlich auch hier niemand. … hallo … was war das ... ein kratzen? ha, das wär zu schön, aber unwahrscheinlich. … hallo … da ist … nein, da ist nichts, gar nichts, außer mein ausgetrockneter kopf, in dem die zellen aneinander reiben. ok, ich werde mich jetzt da drinnen umsehen. die hand auf die klinke gelegt und ... gut, wunderbar, nicht abgeschlossen, das macht die sache sichtlich einfacher und niemand kann später behaupten, ich wäre hier eingebrochen. also dann frisch voran, ich nehme das haus in angriff.
bild_mundschutzdie tür schließe ich hinter mir, denn ich will die einzige sein, die hier sucht und die einzige, die vielleicht etwas findet. oh mein gott, ist das düster hier. verdammt, wo ist der lichtschalter? ich kann kaum was sehen. aber hier an der wand, da könnte einer sein. nein alles ist glatt. ich fühle nur die kälte der verputzten mauer. ich werde später weiter suchen, wenn sich das auge an die dunkelheit gewöhnt hat. das auge wird sich anpassen müssen, das ist ja nichts neues, das war auch in den anderen düsteren buden so, wo ich letztendlich einige lichtschalter gefunden habe, auch wenn sich dann schnell herausstellte, dass nicht einer davon funktionierte. tod durch lichtentzug. aber tote gibt es hier nirgendwo. also, was bleibt mir anderes übrig, als in dieser dunkelheit weiterzusuchen nach etwas lebendigem, auch wenn auf den ersten blick alles lebende verschwunden zu sein scheint. ich klammere mich an die hoffnung, doch noch jemanden zu finden. abwarten, geduld ist etwas, das man hier dringend braucht. ich brauche sie, um mich weiter mühsam vorzuarbeiten. abwarten, bis die schwarze wand sich löst, bis der schatten von den augen fällt. warten, warten, nur noch einen moment. die umrisse, die wände werden jetzt deutlicher. grauflächen und linien. ich komme voran. einen lichtschalter kann ich dennoch nicht entdecken, dafür aber rechts neben der tür einen kleinen tisch. ein sehr schöner tisch aus holz mit dicker blumenvase drauf.

langsam fahre ich mit den fingern über die glatte oberfläche. zeichne spontan kreise und gesichter in den dicken staub, der sich rücksichtslos an meine finger presst. noch ein gesicht, eine linie, ein einzelnes ohr, ein offener mund. nach jeder zeichenrunde hängt mehr staub an meinen fingerkuppen. ich schiebe den dreck kurzerhand von der tischkante und beende damit die tischmalerei entgültig. spielereien dieser art lenken mich nur ab, endlich einen lichtschalter aufzutun. also dann ... ich drehe mich um und gehe auf die gegenüberliegende wand zu. aber auch dort ist nichts, was auch nur annähernd wie ein lichtschalter aussieht. eine kahle, schmucklose wand, deren einzige auffälligkeit eine vollgehängte garderobe ist. voll mit mänteln und jacken. sieht so aus, als wenn sie gleich unter der ladung zusammenbricht. ein bedrohliches stoffpaket; mit sicherheit die garderobe einer großfamilie, jacken für kleine und grosse körper, die in der eile einfach über die haken geworfen wurden. jetzt hängen sie prall und ungenutzt übereinander und warten auf den nächsten einsatz. was mich allerdings wundert: warum sollten sie ohne jacken aus dem haus gegeangen sein? bei diesem wetter? sehr unwahrscheinlich. sind sie noch hier? ist es möglich, dass sie das haus niemals verlassen haben? sie haben sich versteckt oder sie könnten vielleicht ... oder ... nein, das bringt mich jetzt nicht weiter. ich werde mir sämtliche theorien sparen. ich muß weitersuchen, daran führt schließlich kein weg vorbei. ich werde mir nach und nach jeden raum vornehmen, jedem hinweis nachgehen, der auch nur irgendeine form von leben andeutet. … bin ich wirklich vorbereitet auf das, was kommen könnte? bin ich vorbereitet, auch auf eine neue spezies, die vielleicht in irgendwelchen ritzen auf mich lauert. mein magen jedenfalls würde sich im moment über jede spezies freuen, sofern sie nur klein genug ist und durch meine speiseröhre passt.
ich bin auf dem weg in die küche, die es auch hier hoffentlich gibt. mittlerweile haben sich ja meine augen ganz gut an die dunkelheit gewöhnt und ich spähe den gang entlang, der sich endlos hinzuziehen scheint. irgendein unbekannter geruch setzt sich in meine nase, treibt mich genau in diese richtung und lässt vermuten, dass ich dort etwas essbares finde. während ich mir alle möglichen gerichte vorstellen, bin ich schon am ende des gangs angekommen. von hier aus gesehen rechter hand führt ein weiterer flur in das innere des hauses. hier ist es auch deutlich heller, so dass sofort diese gnadenlose unordnung ins auge sticht.
auf dem boden liegen willkürlich verstreut oder zu kleinen haufen aufgetürmt allerlei spielsachen: bausteine, autos, bälle und einige puppen in rosafarbenen kleidern. vorsichtig versuche ich mich an den spielsachen vorbeizumanövrieren. konzentriert behalte ich alles im auge und umgehe slalomartig alle größeren ansammlungen, bis ich dann doch noch -ich habe nur kurz an die wand geschaut- auf eine sofort loskreischende hupe trete. plötzlich aufgeschreckt -beinahe hätte ich mir die ohren zugehalten, denn mein trommelfell ist ja auch nichts mehr gewöhnt- schaue ich nach unten und entdecke sofort diese häßliche tröte. ohne zögern und mit einem gezielten tritt kicke ich sie in die nächste ecke.
die bodenlage genau im blick, überprüfe ich jetzt einzelne gegenstände. ein paar bausteine, eine puppe, die mitten im weg liegt schiebe ich näher an die wand. andere, kleinere objekte, die neben einer größeren puppenansammlung liegen, betrachte ich etwas genauer. sieht aus wie ein stofftier, allerdings in sämtliche einzelteile zerlegt. sechs beine und dort aller wahrscheinlichkeit nach das bruststück. für ein stofftier, finde ich, hat das ding eine recht ungewöhnliche farbe. ein wirklich sehr grelles, aggressives neongrün. und der rest, diese stoppeln hier am oberen ende, wirken auch nicht gerade typisch. wirklich unappetitlich, aber ich bin neugierig geworden. ich muss die beschaffenheit unbedingt prüfen. am besten diese stelle, da ist der körper glatt und ohne stoppeln, nicht ganz so ekelhaft.
ich kann nicht. irgendwas hindert mich daran, dieses ding anzufassen. das grün verändert sich. das grün verändert sich im licht. oder hat sich das licht verändert.
oder bin ich dabei mich zu verändern ...? ich lege meine hand auf den grünen körper. meine fingerspitzen tasten die oberfläche ab, sie ist warm und ein wenig feucht, überwiegend glatt. aber fährt man mit den fingern über den unteren teil, ist sie porös und rissig. ich fahre wieder über den glatten teil und ich erhöhe den druck auf die oberfläche. die haut gibt nach und die finger gleiten in eine weiche, teigige masse. kein widerstand zu spüren bis ich ungefähr in der mitte auf etwas hartes stoße. ich ziehe sofort meine finger heraus und sehe wie die grüne masse die löcher, die meine finger hinterlassen, sofort wieder schließt. erschrocken werfe ich das absonderliche ding in die ecke und mache mich wieder auf den weg, an den spielzeugbergen vorbei, auf der suche nach der küche.
das hier ist also die familienküche, groß, hell und mittendrin ein grosser kühlschrank. ich steuere direkt darauf zu und öffne erwartungsvoll diese riesige kühlschranktür. leider pech, dieser kühlschrank ist vollkommen leer. nicht mal ein krümel zu sehen. der anblick ist vollkommen ernüchternd. ich schließe die tür.
wieder im flur, mit leerem magen, suche ich weiter. was suche ich? suche ich überhaupt noch etwas? frustriert stoße ich mit aller wucht die im flur verstreuten spielsachen beiseite und bewege mich in richtung eingangstür. im vorbeigehen schaue ich kurz nach der garderobe. es könnten ja dort, in der zwischenzeit, mäntel abgenommen worden sein. aber ich erkenne sofort, dass dort nichts fehlt. keine veränderung. niemand hat hier etwas abgenommen. die mäntel hängen unverändert dicht übereinander. hoffe ich immer noch auf menschliche wesen? nein, ich habe keinerlei hoffnung. ich werde jetzt nur noch im oberen stockwerk nachsehen, vielleicht finde ich dort etwas brauchbares, das mein überleben für die nächsten tage sichert. ich nehme die treppe ins obere stockwerk.
es ist dunkel und unerträglich schwül hier oben und ich muss mich ungeheuer konzentrieren, um nicht die orientierung zu verlieren. ich setze mich auf einen stuhl und starre die wand an. wenn ich lange genug auf die wand starre, erkenne ich einen silbrigen glanz, einen netzartigen überzug über dunklem holz. die bilder an der wand, fünf stück an der zahl, liegen wie unter zuckriger glasur. aber ich werde nicht näher herangehen. keine prüfung mehr vornehmen. ich bin so müde. nur einmal die zimmer sehen, der ordnung halber, dann gehen. ich merke, dass ich ein wenig schwanke und mir eimerweise schweiß den rücken herunter läuft. ich stinke bereits von soviel schweißabsonderung und zu wenig körperpflege. das bin nicht ich selbst; das ist eine überdosis selbst. ich werde den ganzen, stinkenden schweiß abwaschen. ich werde in einen fluß springen, später.
bild_matschaugeich kneife die augen zusammen und reiße sie schnell wieder auf. das ist wohl ein witz. eine ansammlung grüner, larvenartiger schläuche mit kugelförmigem hinterteil bewegen sich langsam aber stetig auf die mitte des zimmers zu. aus ihren mäulern hängen ... das ist unmöglich. nein, nein, ich lehne es strikt ab, was ich hier sehe als tatsächlich vorhanden zu akzeptieren. das hier ist vollkommen ausgeschlossen, einfach unmöglich. ich sollte augenblicklich das zimmer verlassen. mein gehirn wird sich dann schon beruhigen. denn das hier ist ein ausnahmezustand; die lange einsamkeit, der hunger produzieren unrealistische bilder. möglich, dass meine schaltungen nicht mehr richtig funktionieren. ich muss auf der stelle raus hier. ich muss mich neu sortieren. ich spüre, meinen herzschlag pumpt angst in meinen schädel.

ok, hier draußen auf dem flur geht es mir schon viel besser. ich atme langsamer und zähle dabei die dunklen holzdielen. ja, es hilft, es wird jede sekunde besser, ich spüre es einfach, ich sehe klarer, obwohl mein kopf noch etwas schmerzt. aber das wird sich sicher gleich geben. ich werde noch (sollte ich wirklich?) einen kurzen blick in das letzte zimmer werfen; nur der ordnung halber, bevor ich hier entgültig verschwinde.
warum grinst der mich so blöd an? scheiße, schon wieder so ein abgedrehtes bild? mein kopf dröhnt wie ein presslufhammer. meine augen schmerzen von dieser unglaublichen grünattacke. aber mein instinkt ist hellwach und sagt mir: vorsicht! halte abstand! diese merkwürdig formlose masse könnte gefährlich sein. obwohl, diese warmen braunen augen, und ich zwinge mich in diesem augenblick genau hinzusehen, in dieser giftgrünen umgebung durchaus freundlich wirken. soll ich ihn, sie oder es ansprechen? kann es überhaupt sprechen? sollte ich ...? es bewegt sich. langsam, aber eindeutig kommt es auf mich zu. ich drücke meine hände gegen meine schläfen, doch das dröhnen in meinem kopf hört nicht auf. ich weiche zurück. das absonderliche wesen hält weiter kurs auf mich, wobei sich seine hellen, dicken stoppeln, die über den gesamten, leicht glänzenden körper verteilt sind, aufrichten. ich kann mich nicht abwenden und schaue auf das riesige maul, genau in diesem moment wird ein leichtes zucken wahrnehmbar. das maul öffnet sich, aus seinen winkeln tropft eine weiße, sämige flüssigkeit, die sich unaufhaltsam in den fußboden ätzt. ich versuche mich weiter auf das maul zu konzentrieren, das jetzt einen beißenden gestank ausströmt. inzwischen ist diese öffnung so weit aufgesperrt, dass ich tief in diesen massigen körper hineinsehen kann. mir wird übel von dem, was ich dort sehe. ich verkampfe augenblicklich. ich muss mich irgendwo festhalten. warum renne ich nicht einfach los? ich kann nicht. ich muss genauer hinsehen. ich muss wieder in diesen dunklen abgrund sehen. ich kann nicht anders, ich bin wie angewurzelt, fast gelähmt. plötzlich klappt das maul zu. aus der grünen oberfläche schieben sich lange schwarze fühler wippend auf mich zu und ich schreie aus vollem hals: bist du die königin?

 

Text + Bilder Ilka Berger

ilka-berger.de