20110830


Geschichten aus der Todeszelle

Wir sind dann später zum Strand gegangen. Und wegen meinem Bein hat Rosea dann doch noch den Rollstuhl von der gegenüberliegenden Straßenseite geholt, hat das kaputte Rad dranne gemacht, irgendwie befestigt, mit Kordel und sogar Tesa, improvisiert, aber es hält.
Hier (am Strand) habe ich also (neulich) den Friedrich wiedergetroffen, den toten Friedrich, und immer wenn Rosea mir von hinten auf die Schulter fasst, zucke ich zusammen. Als dürfte ich nicht hier sein.
Dabei ist der Strand eine Strafe. Da ist gar kein Strand, das ist Bauernfängerei, so ein Schild. Eine lange Kaimauer, schwarz, veralgt, und wasserseitig ein, zwei Meter breit: schwarze spitze Steinkörnchen, scharfkantige Muscheln und ein Meer, das den Namen nicht verdient. Eher so eine horizontweite Öllache ohne Wellen. Nur Gedümpel. Tote Fische und alle Register eines grauenhaften Fischkonservenfabrikhafens. Vom Gestank ganz zu schweigen. Und das tun wir auch. Schweigen. Schweigen uns an oder in die entgegengesetzten Richtungen, als wären wir 20 Jahre verheiratet. Der Lack ist ab, wie man so sagt. Sie hält Ausschau nach dem reitenden Prinzen und er nach dessen Gegenstück in Rüschen. Aber weder stimmt das eine noch das andere. Der Morgen ist ja noch nicht vergessen. Für beide noch nicht, sie zehren noch davon.
Was mache ich eigentlich? Es will und will ihm nicht einfallen. Zu lange im Knast gesessen, Baby. Fehlt der Bezug zur Wirklichkeit. Und warum überhaupt draußen?
Tatsächlich gibt es Leute, die baden. In der Jauche.
»In der Jauche!«, sagt Rosea, »guck mal, die baden in der Jauche!«
Der Mann im Rollstuhl stimmt ihr zu. Die sind doch pervers. Wir sind uns da einig, dass das pervers ist.
Hinter einem Knick dann die Schiffe, die Riesenfischkutter, keine Kutter, Ozeanriesen, die die Wale wie Stichlinge aus dem Wasser ziehen, LKWs (hier fahren die also hin), Fischdosenlaster, ein Bürogebäude aus besseren Zeiten, und dahinter ein sozialistischer Wohnblock, Heimat der Fischer.
Immerhin finden wir eine Fischbude, kein Haus, nicht mal eine Bude, nur ein Fischwagen, ein Hänger, auf Rädern. Eine dicke Frau ohne Kundschaft. Wir kaufen trotzdem jeder einen Backfisch. Der schmeckt, als wäre er im Brackwasser frittiert.
»Öl ist Öl«, sagt Rosea. Sie ist so unbekümmert.
Sie schiebt mich, als wär's der Kinderwagen. Auf dem Rückweg, es wird schon dunkel, suchen meine Augen den Rinnstein ab. Aber da ist nichts mehr. Nur die extrem hohe Knastmauer. Wie eine Festung. Als wäre das der geschichtlich bedeutendste Bau in dieser Stadt. Und endlos lang, kein Anfang, kein Ende, diese Endstation Sehnsucht. Autos Autos Autos, der kaputte Rollstuhl ist so schwergängig wie was weiß ich, man ist froh, das eigene Haus endlich zu sehen, aber vorher im Supermarkt kaufen wir noch ein. Geschnitten Graubrot in einer Zellophantüte, Porree und eine Dose Makrelen. Als wir die einpacken, müssen wir lachen. Beide.
»Schade, dass ich morgen wieder ran muss ...«, sagt sie, so beiläufig.
»Ran« sagt sie. WoRAN denn?
Und was mach ICH?
Was antwortet man auf so einen Satz? Mir schnürt sich schon wieder der Hals zu. Noch bevor Rosea den Schlüssel in die Haustür steckt.
Was verdammt mach ICH denn morgen? WAS? Ich muss doch was machen! Und dann geschieht das Unmögliche:
»Warte, ich bringe nur schnell die Sachen hoch ...«
Ja was meint sie denn? Ja was meint sie denn?
Die Peitschen gehen an, die Lichter gehen an, Abblendlicht im Straßenlicht und ich muss aufs Klo. Da ist sie schon zurück. Wieder bei mir und bringt mich (wie sie das bei dem Verkehr nur schafft!) rüber. Rosea!
Klingelt und ist weg.


Kommentar der Putzfrau: »Wochenende schon rum?«