20110730


Geschichten aus der Todeszelle

Ich schrecke hoch. In besagtem Schacht, der nach NORDEN führt, alles beobachtet von der Putzfrau (die in Wahrheit Meta ist, und die Priesterin). Ich liege immer noch im Bett. Das hat Rollen. (Nie zuvor bemerkt)

Außerdem: Infusionsflaschen und Schläuche, die per Nadel in meinen Unterarm (links) führen. Mir ist schlecht. Aber das Rumpeln und dieser Krach, wenn ein Metalletagenbett durch einen alten Kanalschacht geschoben wird - unmöglich, weiterzuschlafen. Außerdem riecht es nach Kotze.

»Jetzt den linken Abzweig!«
Wer sagt das? Das kam aus dem OFF. Als wäre ich ein Theaterstück!
Er ist gut beleuchtet, dieser nicht mehr im Betrieb befindliche Abwasserkanal. Ziemlich gut, wenn auch das Licht so gleißend reinweißeiskalt ist. Schlimmer aber die Friedrichbeule über mir. Ich kann ihm fast in den Dingenskirchen beißen, nur dieses ausgeleierte Drahtgitter und die dünne Strohmatratze (STROH? Ich werde nostalgisch ...) zwischen meinen Zähnen und seinem Fleisch verhindern das.
Und meine eigene Kraftlosigkeit. Hebe ich den Kopf, kommt vorne Kotze raus.
»Schschsch ...«, macht der Tod.
Der Tod ist natürlich nur die passende Allegorie. In Wirklichkeit läuft die Larve neben mir her, trotz ihrer Würdekutte vergleichsweise hektisch, MITFÜHLEND. Sie ist es auch, die den Edelstahlständer mit den hängenden Flaschen führt. Gelbes Flüssiges, klares Flüssiges. Whiskey und Wodka. Intravenös.
Ich muss lachen, obwohl mein Kopf in Blei gegossen ist. Und schmecke sofort meinen Kotzgeschmack. Ein Geschmack wie Blumenkohl. Kennen Sie das? Aufwachen und der Geschmack von Blumenkohl im Mund? Natürlich kennen Sie das! Der Leser ist ALLWISSEND.
Außer der Schmetterlingsfrau weitere Personen:
- der Mexikanermachoami, in dunkelblauschwarzer Uniform und lärmenden Stiefeln, der mit einer Mördertaschenlampe den Weg BAHNT,
- die Richterin (nicht die Priesterin, aber war das nicht dieselbe? Ich komme ganz durcheinander!)
- die (auf die ich vergebens wartete) Schwester,
- meine Putzfrau (aber nur aus dem - wie gesagt - Off).
- der Gnom, den ich nicht sehe, aber am Geruch erkenne. (Bah, bin ich fies)
»Dort ...«, Lautsprecherstimme, Putzfraus Lagerlautsprecherstimme, »dort weiter geradeaus ...«, und Richterin, Schwester (vorne) und Gnom (hinten) schieben das Bett. Der Wärter übrigens leuchtet nicht etwa den Weg, es ist ja hell genug, er PRÜGELT ihn sich frei. (und uns)
- ach ja, nicht zu vergessen der Friedrich über mir. Schnarcht wie ein Bär. Aber der Friedrich ist tot. Der zählt nicht.
Ein dicker Kanalarbeiter in blauem Ganzkörperanzug, mit Helm, Geschirr und Karabinerhaken (etc.), wuscht an mir vorbei, hält sich - an die Betonwand gelehnt - die blutende Nase Taschenlampenabdruck). Andersrum wird ein Schuh draus: Ich wusche an ihm vorbei. Der Brutalo ist ein Schwein, denke ich.
Aber andererseits? So viel Volk hier unten. Ich hebe erneut den Kopf. Etwas besser, ein, zwei Sekunden ohne Ohnmachtsanfall. Und sehe: Leute, überall. Schlafende, auf dem Boden, nicht im (asymmetrisch rechts liegenden) Gerinne, da fließt eine schwarze Brühe mit Klümpchen (also doch nicht außer Betrieb, was erzählt mir die Putzfrau für ein Scheiß), aber auf der komfortabel breiten (asymmetrisch links liegenden) Berme (das ist der flache, zum Gerinne leicht schräge Weg der Kanalarbeiter, für zum Beispiel wenn mal ein totes Reh den Abfluß blockiert). Auch wir rollen auf der Berme, in Konkurrenz zu ärmlich gekleideten Menschen, nur eins über Pennern, eher Film-Arme, Kinderaugen, alte Männer, in Lumpen gewickelte Mütter. Wir wecken sie, die nur den Kanal haben und sich von dem ernähren, was der Kanal ihnen bringt ... Oh Gott ...
Der Wärter schlägt mit der Mag-Lite nur so um sich. Außerdem Treten und Anschnauzen. Mein Kopf sinkt wieder ins Kissen. Immerhin ICH habe ein Kissen denkt der Mann, MIR geht es noch immer vergleichsweise gut.
Die Leute schimpfen, in einer Sprache, die die der Mann im Rollstuhl nicht verstehen kann (nicht verstehen will?), aber sie haben auch Angst oder Respekt, der Wärter macht uns Platz.
Ein Baby schreit. Wie die Katzen vor einer halben Nacht. Finger greifen nach mir. Magere, dunkle, dunkle, weil schmutzige, vielleicht auch weil dunkelhäutige Finger. Bittend, bettelnd, aber auch auf eine HULDIGENDE Art, als wäre ich der AUSERWÄHLTE (der Erlöser?). Eine uralte Frau hält mir den Säugling hin, kommt sich ins Gehege mit der Kutte. Die Schmetterlingsfrau verliert beinahe ihre Infusionsflaschen, doch sie schimpft nicht, hebt sogar die Schläuche, um der Alten Platz zu machen. Durch das Anheben reißen die Nadeln in meiner Haut und mir wird wieder schlecht. Der Säugling ist schon lange tot, was will die nur mit dem? Es soll ja so was geben, dass die Mutter den toten Säugling nicht hergibt, aber das liest man nur von Makaken auf Malaysia. Links die Alte und die Sensemannfrau, verwirbeln zu einem Lumpenbausch, aus dem die knorrigen Arme den Säugling halten, der, mit hängendem, schlackernden Kopf auf meinem Bauch sitzt, trägt immer noch die Windel, schwarz vom Durchfall, zum Glück längst getrocknet, wie der ganze kleine Kerl längst völlig trocken ist (»aber sprich nur ein Wort und so wird meine Seele gesund«), von der rechten Seite die herrenlosen Hände aus dunklen Augen, immer noch nicht die Hoffnung verloren, wie machen die das nur?
»STOP!«
(Off)
Eine druckfeste Stahltür. Links. Ein komplizierter Mechanismus, den der Mann im Rollstuhl nicht versteht (wo ist überhaupt der Rollstuhl?).
Die Tür geht mit ohrenschmerzendem Quietschen nach außen auf, ins Nichts, eine Stufe, man schiebt das Bett einfach raus, auf die Straße. Wegen der Stufe kippt es um, Scheppern, der Gelähmte fliegt, purzelt, ebenso der Friedrich, der so tot ist wie der Säuglingskadaver, auf die nächtens verlassene Bundesstraße.

 



Kommentar der Putzfrau: »Das mit dem STOP war ich.«