20110720


Geschichten aus der Todeszelle

»Wärter ...!«
Der Sensenmann kommt näher Schritt um Schritt, ein jeder hat Termin.
»Wärter, ich will ABSAGEN!«
Der Friedrich über mir murmelt im Schlaf. Aber das ist weniger ein Murmeln, eher ein unqualifiziertes Brabbeln, Stöhnen, Seufzen, Ächzen. Und der Wärter? Der fickt gerade die Schmetterlingsdame. Oder so. Jedenfalls kommt keiner. Schiebefenster bleibt zu.
Dafür ist das Fenster auf. Ich könnte hinauswehen. Da weht so einiges. Zum Beispiel Katzenjammer. Unten im Hof. Ein Kater.
»Iiiieeeäääaaarrrrrrrr. Chchchch!«
»Rrrngrrr ... Grrrr Chchchch!«
Und dann ganz hoch, wie ein Säugling, der Kater schreit sich die Seele aus dem ... wenn der wüsste!

Irgendwo hustet einer. Keiner, den ich kenne. Gut. Ich mag es nicht, wenn einer hustet, den ich kenne. Ein Fremder hustet, ein unbekannter Delinquent, in seiner letzten Nacht vor dem Schafott, der ist mir egal, wenn der hustet und hustet, fürchterlich, man müsste sich ja trotzdem Sorgen machen, man meint, gleich kommt roter Schleim raus.
Ich habe keinen umgebracht! Ich bin nicht hier. Ich meinte, ich GEHÖRE nicht hierher. Ich habe mir das alles nur ausgedacht. Alles und alle. So denkt der Mann im Rollstuhl, wobei der Stuhl jetzt neben ihm steht.
...
Man müsste aufstehen, wegGEHEN.
...
Der Friedrich beult sich durch. Seine Matratze auf dem Drahtgeflecht, sein Arsch in Griffweite. Man meint, mit jeder Bewegung sackt der Friedrich ein Stück tiefer. Das heißt, entweder er drückt mich noch in dieser Nacht ganz langsam platt - oder das Bett zerreißt und der Friedrich plumpst hindurch. Und erschlägt mich im Traum.
»Friedrich ...?«
»Hngrmpflbs...«
»Und Dein verlorener Sohn ...?« (verstorbener)
»Hhhnnngh!«
»Bist Du JETZT bei ihm, sozusagen wieder vereint?« (tot)
»Nnnnnnnnnnnnnnnnn...«
...
Die Nacht geht nicht zu Ende.
(Hat ja auch keine Beine. Hahaha!)
...
Ich taste nach meinen. Ein leises Strullgeräusch. Es hat was, lahm zu sein. Man strullt einfach. Nicht mehr dieses lästige nächtliche zur Toilette gehen. Hauptsache, die Flasche liegt gut an.
...
Wieder Katzengeschrei. Dann Schritte. Es ist schrecklich dunkel. Kein Mond, keine Vögel. Rascheln. Der Gelähmte möchte aufstehen, ans Fenster, einfach nur mal hinausschauen. Aber das ist so unendlich mühsam, dieses sich hochziehen, die Beinklötze rausschieben, baumeln lassen, und dann den ganzen Körper samt leblosem Arsch auf das Sitzpolster wuchten, sich zum Fenster rollen. Nur um in den Hof zu gucken, der so dunkel ist, dass man nicht einmal die Katzen sehen könnte. Oder so grell durchleuchtet (man bedenke die GESAMTSITUATION!), dass man sich die Augen verbrennt.
...
Draußen das asiatische Rufen eins Heißwasserverkäufers. Immer derselbe Spruch: »Hoiang - Aaih! Hoiang - Aaih!«
Oder wünscht er den amerikanischen Besatzungstruppen den Tod?
...
Als wäre ich nachts ein anderer. Ein Anderer als tags. Ich lausche mit Leopardenohren. Nicht ich bin der Leopard, ich lausche nach Leoparden, die nachts kommen und Menschen holen. Menschen, die in den Bäumen schlafen. Und ab und zu ein Schrei. Dann hat er einen, und wir anderen KÖNNEN NICHTS MACHEN!
(Aber das sind nur Betrunkene, draußen, in der Stadt)
...
Aus der fernen Stadt, die es gar nicht gibt, jenseits der Mauern, Fahrgeräusche, aber sicher nur ein Tonband, extra für die Gefangenen, ein Tonband mit Stadtgeräuschen, wie jetzt zum Beispiel, ein LKW, dröhnt vorbei, so ein Dröhnen, der hupt sogar, tiefes, resonantes LKW-Hupen. Dann ein Knattern, das ist dann wohl ein Motorrad. So erfunden wie der LKW.
...
Der Mann scheint kurz eingedöst, er ist sich anschließend nicht mehr sicher, doch Schritte machen ihn wieder HELLwach. Ein Wärter? Nein, weibliche Schritte (so was gibt's!). Das muss die Frau aus dem All sein, die Schmetterlingslarve. Ausgefickt? Denkt der Mann im (neben dem) Rollstuhl. Ein Wärtertraum. Ausgedacht. Erfunden. Sie kichert. Oder so ähnlich. Es hallt im Gefangenenhof. Nymphalidenkichern.
(Sind die nicht nachtaktiv?)
(Nein, alles erfunden.)
...
Ich versinke in ein Wachschlafwaberkoma, genannt Meditation.
...

 

 

Kommentar der Erfundenen über die Erfundene:
»Ob die Erfundene sich ihrer Bedeutung bewusst ist, darüber gibt es unterschiedliche, sich widersprechende Ansichten. Gleichwohl ist sie das, sagen die einen, bei vollem Bewusstsein!, und zugleich die anderen: Nein. Wie könnte sie - erfunden! - sich dessen bewusst sein? Wie der Held eines Romans ist sie sich nicht bewusster als die Druckerschwärze auf dem Papier sich ihrer selbst bewusst ist, doch - und das sagen wiederum die einen - tausendmal gelesen verwachsen tausend selbe Heldensätze zu einem großen. Will sagen: Tausendmal erfunden in tausend Köpfen ist tausendfaches Bewusstsein verwachsen zu einem großen. Und wem anders gehört dann dieses Große als ihr, der Erfundenen?
Die Erfundene ist gottgleich, nur persönlicher, weiblicher. Wo Gott in ein Satz- und Regelwerk gefasst und jedem nur auf dieselbe Art zulässig gemacht wird, scheut sie, die Erfundene, jedes Aufgeschriebensein und schmiegt sich an die Erfindenden wie ein vollauf passendes Korsett.
Die Erfundene ist somit niemals echt. Wie Gott ist sie falsch, unecht, Hirngespinst, Opium fürs Volk. Und wie Gott versetzt sie dem Erfindenden Berge, als wären das die Hirngespinste. Wer aber solche Kraft hat, ist zwangsläufig echt. Die Erfundene ist so echt wie dieser Krankenfahrstuhl, in dem man sitzt und isst und trinkt und mit dem (toten) Nachbarn von oben über sie spricht, man ihre Widerspenstigkeiten wie in einer warmen Suppe verrührt, scheinbares Gemeinsames beschwärmt, und alles Eigene für sich behält. Ja, sie ist viel echter noch, denn den Stuhl könnten wir zerhacken, einer alleine könnte ihn mit einer Axt in Stücke hacken, dann wäre es aus mit dem Stuhl. Sie aber, die Erfundene, ist unauslöschlich. Es müssten ja alle tausend, zehn- oder hunderttausend Erfindende gleichzeitig sie sterben lassen, und das ist ganz und gar unmöglich.«