20110630


Geschichten aus der Todeszelle


»Wärter ...!«
Die Nymphalidendame schlägt mit der Kerzenwachsfaust vor die Stahltür. Stahltür. Stahl. Das süße Leben vorbei.
»Das heißt 'Pfleger', oder 'Schwester' ...«, klärt sie der Mann im Rollstuhl auf.
Die schwere Tür öffnet sich filmreif.
»Das heißt 'Wärter'!«, klärt ihn die Frau mit der Glatze auf. Sie zieht sich die Kutte wieder hoch, damit der Wärter, ein unrasierter, fetthaariger Machoschnurbarttyp in blauer U.S.-Uniform, nicht so glotzt.
»Die beiden haben ein Problem«, sagt sie und zeigt auf den immer noch am Boden gekrümmten Friedrich.
»What for hell ...?« Echt Ami eben, der Typ.

»Sie können die beiden festnehmen!« Der Typ glotzt blöde. Sie lacht. »Hahaha, 'Festnehmen' war gut, nicht?«
»Did you ...« Gefängnismachoman zeigt erst auf den Mann im Rollstuhl, dann auf den Friedrich. Den mit geballten Fäusten im Schritt sich windenden Friedrich. Mr. Man kriegt große Mexikanerkugelaugen. »Did you really ...? Whow!« Er schüttelt anerkennend seine rechte Hand aus. Mit einem Kopfnicken gibt er Frau Schmetterling das Zeichen, die Zelle zu verlassen. Sie geht und sieht aus wie Gevatter Tod, hat sogar die Kapuze übergezogen.

Der Mann im Rollstuhl will folgen.
Doch der Wärter stellt sich ihm in den Weg. Drohend fummelt er an seiner Kanone, die er locker im Halfter führt.
»Aber das ist doch ein ... Heim!«, ruft Mr. Rollstuhl, »ein Pflegeheim, jeder ist freiwillig hier ...« (als hätte ich nicht selbst gerade einen Witz darüber gemacht.)
»No!«, brummt der Wächter, »no, no, and again: no!«
Und »Fuck you!«
Und »I'll kill you!«
Was man eben so sagt.

Dann schließt er die Tür. Filmmäßig. Rumms. Alles ist stickig, riecht nach Öl und Eisen, und das Zimmer muss sich der Mann im Rollstuhl von nun an mit dem Friedrich teilen, der von den Toten auferstanden bei ihm liegt. Mit Eiern wie Suppe. Wie brutal können Nymphaliden sein? Schmetterlinge! Heititei!
»Steh auf!«, sage ich, »Friedrich, steh auf!«
Doch der Friedrich ist nur zum Jammern zurück auf die Welt gekommen. Zurück ins Leben.
Die Klappe in der Tür wird aufgeschoben. Metall auf Metall.
Der Wärter: »Nobody gets out of Here. No Life. Ya understand? No Body! You Motherfuck!«

»Aber das ist ein Traum, verdammt. Der da ...«, ich zeige auf den winselnden Friedrich, »der da ist tot, längst tot, und das hier ...«, ich mache eine raumgreifende Geste, »das hier ist ein Altenheim. Ich könnte, wenn ich wollte, raus!«
Der Wärter lacht und zeigt Zähne, die mich an den Gnom erinnern. »THis is your cell! Your death cell. You on deathrow! You damned Fucking Bullshit man!«
»Selbst bei Kafka ...«
Frau Nymphalidin schiebt den Macho beiseite, ihr kapuzenverschattetes Kerzenwachsgesicht: »Was hat das ... DAS HIER mit Kafka zu tun?«
»Na alles, diese ganze Willkür, dieses 'dem Gesetz ausgeliefert sein'.«
»Gesetz? Was für ein Gesetz?«
»Willkür!«, sage ich. Der Rollstuhlmann.
»Ach du! Für Willkürlichkeit müsste es erst einmal das Nicht-Willkürliche geben. Das Verlässliche. Das Gesetz.«
»Ja, das meine ich ...«
»Es gibt kein Gesetz. Kafka hat Gespenster gesehen. Hat an etwas geglaubt, das zwar unerreichbar ist, das aber doch irgendwie existiert. Ein Apparat. Mit einem Kern, einem Gipfel, einer Hierarchie. In der niemand weiß, wer noch alles über ihm steht.«

»Nobody!« Da ist er wieder, Mr. Mexikaner. »Nobody above me. I am the Law. There's no Law but me!«
»Sag ich doch, Willkür ...«
Der Macker zeigt schon wieder seine Zähne. Spuckt in die Zelle. Der Spuckflatschen landet im Schoß des Rollstuhlmanns.
Wieder schiebt ihn die Wachsfrau beiseite.
»Argh!«, macht der Typ.

»Es ist alles ganz einfach!« sie muss es schreien, weil der Wärter sie aus einem unsichtbaren Winkel heraus anbrüllt. »Es ist ... es gibt einen Ausweg!«
»Nein!«, schreie ich zurück, »ich habe alles versucht. Sogar einen Antrag habe ich ausgefüllt. Es gibt keinen!«
Hinter dem kleinen Fensterchen ein Gerangel. Der Wärter will sie wegdrücken, sie drückt dagegen. Wechselweise mal ihr Gesicht, mal seins. Der Wärter brüllt wie ein Löwe. Wie ein Löwe im Zoo, ein frustrierter, gelangweilter, verunsicherter Löwe ohne Auslauf, ohne Sinn. Immer wieder schlägt er der Frau ins Gesicht. Doch sie bleibt hartnäckig, verzieht die Mangaaugen und den Schlitzmund und rümpft die Knopfnase. Stemmt sich gegen seine Attacken.
»You fuckin' Kafka, man, ... woman, you damned fucking Kafka, he  is right eather, you fucker, all fucker you ...!«

Müde beugt sich der, der ich bin, über den Friedrich.

>>> Kommentar der Putzfrau: »Zombie! Jetzt haben die auch noch Zombies in diesem Laden! Und der andere hat Rotze auf der Hose.«