20110330


»In der HALL OF SHAME!« (der Gnom)
Er schiebt mich durch den Nord-Trakt. Der Mann im Rollstuhl hat ein dickes Bündel AUSGEFÜLLTE Formulare auf dem Schoß. Stunden später, an einer unglaublich hohen, mit Schnitzereien europäischer Mythologiegeschichte überzogenen Eichentür: meine PP.
»Hier wohnst DU?«
Die PP hört ihn nicht, sie schläft. Im Stehen, auf ihren Feudel gestützt, das müde Haar unter dem Kopftuch und der Kittel schmutzig. Wie eine Wächterin. Sie schnarcht. Der Gnom schiebt den Rollstuhl durch die offene Türspalte (wie nachlässig all das) und dann bin ich allein unter den Sterbenden.
Die 'Hall of Shame' ist also die Halle der Sterbenden.
»Hier muss man den Antrag abgeben?«
Kein Dom so groß wie dieser Saal, voller Betten, in denen Männer mit Ledergurten festgeschnallt sind. Dahinten: Eine Chefarztvisite huscht von Patient zu Patient, um die finale Giftspritze zu setzen. Die Sekretärinnen tragen hohe Schuhe. Jeder Schritt hallt.
Ihnen MIT GEBÜHRENDEN ABSTAND folgend: der Priester.
»Schäme dich ...« (ich werde das Gefühl nicht los, sie (sie?) zu kennen), murmelt's und macht ein Kreuzzeichen über dem Gesicht des Schlafenden, während Chefarzt und Tross schon beim Nächsten sind und die ... DIE (!) Vene suchen. Irgendwo wird gehustet.
Der Gnom mag die Halle nicht betreten. Er erträgt den Anblick nicht. Schiebt mich rein, mit Anschwung, ich rolle von alleine, fasse es nicht, da liegt der Friederich!
Hat die Augen geschlossen. Bei ihm der ältere Sohn.
FrauundKind? Fehlanzeige. Der Sohn auf dem Weg zur Vernunft. ERWACHSEN werdend, sagt man.
Der Mann im Rollstuhl, der was ganz anderes zu tun hat, sieht sich nach dem Gnom um. Doch der ist weg, Tür zu, der Arsch, knutscht sicher mit der Putzfrau.
Quatsch.
»Friedrich!«, hauche ich ohne Stimme, »...riedrich ...iedrich ...drich ...ich ...« flüstert's zurück aus der unendlich weiten Halle.
Ich rechne. Ich war schon immer eher der Rechentyp. 3 Milliarden Betten, das sind 30 Tausend mal 100 Tausend, jedes Bett zwei mal ein Meter, plus jeweils ein Meter Sozialdistanz, nach hinten und zur Seite, d.s. sechs Quadratmeter pro Sterbenden, und sterbend sind alle. ALLE! (Männer). Irgendwann mal, also, ich rechne und rechne, 90 Kilometer tief, 200 Kilometer breit, 18 Tausend Quadratkilometer, so groß ist die ultimative Halle.
»So groß wie NRW ...« sagt der Mann mit dem Formularberg auf seinem Schoß.
»... oder Holland! (ca.)«, Friedrich hat die Augen auf und sieht mich an, »wir sind Milliarden!«
»... das sind doch nur'n paar doofe Betten, in dem Kabuff hier!« Es widerspricht sein Sohn mit Stimmbruchstimme.
»Die Jugend sieht nicht alles«, so der Friedrich augenzwinkernd zu mir, voller Verständnis, und dann zu dem jungen Mann: »Schau dir das an, das ist der Tod!«
»Mhh ...!«
Was der wohl denkt, denke ich. »Friedrich, warum hast du ... du bist doch noch gar nicht dran!«
Er beachtet mich nicht. »Sohn«, sagte er, »Sohn, wenn ich den letzten Atemzug getan, und meine Augen sind geöffnet, dann schließe sie bitte!«
»Ja, Vater ...«
Und an mich gerichtet: »Komisch, zu wissen, gleich liege ich da und bin doch weg ...«
»Wo kann ich das hier abgeben?«, frage ich, will das Gespräch irgendwie versachlichen.
»Löse die Lederriemen, dann bringe ich dich ...«
»Aber du stirbst gerade ...«
»In einigen Minuten, oder Stunden, das weiß man ja nicht so genau, für einen Spaziergang wird's noch reichen ...
Junge, pass du auf mein Bett auf, dass sich kein anderer reinlegt!«
Gemeinsam lösen wir das Leder von Arm und Bein, und Friedrich, der Sterbende, schiebt mich durch die Reihen der, der ..., die ...
... hin zu einem Kanaldeckel, mitten in der Halle. Die übrigens doch nicht so groß ist wie ursprünglich vermutet, eher nur wie eine Kirche, höchstens ein Dom, und nur die Dunkelheit und die überall flackernden Kerzen erweckend so einen Unendlichkeitsschein. Wir erreichen also den gusseisernen runden Mittelpunkt, darin eingelassen das bronzene Stadtwappen von Emschau, und darauf die Priesterin (ja, das ist sie, SIE, sie ist sogar mehr als die Priesterin, warum habe ich das damals eigentlich nicht bemerkt: das ist doch meine, MEINE PUTZFRAU!
Zumindest möchte ich das in diesem Augenblick glauben, ganz fest glauben, darum geht es ja, wenn man mit Priestern zu tun bekommt, ...

Kommentar der Putzfrau: »GLAUBST DU, dass du DAMIT rauskommst?«