Selbstmörder

JoSchon als Kind habe ich gerne am Feuer gesessen und beim Grillen zugesehen. Diese Verwandlung durch Hitze! Manchmal sprang eine Wurst vom Rost, direkt in die Glut. So erlebte sie das Sterben ein zweites Mal. Sie krampfte, zuckte, bäumte sich auf und ihr anschwellendes Fleisch spannte ihre Haut. Man hörte sie winseln bis sie zerriss, sich über die ganze Länge häutete und gelblicher Saft heraus spritzte. Aus weißer Haut wurde schwarze Kruste, vom Fleisch blieb nur Kohle und endgültig konnte man von Tod sprechen.  

Doch kurz bevor es vorbei ist, stichst Du mit einer Gabel tief hinein. Du holst sie raus, gerettet. Gerade noch. Natürlich nur, um zwischen Deinen Zähnen zermalmt zu werden. Zu früh gefreut? Und wenn sie sterben wollte? Absichtlich vom Rost gerutscht? In die Flammen? Und erst dort, bei unerträglichen Schmerzen schwach geworden und wieder einen Lebenswillen gefunden - unendlich froh, von Dir gerettet zu werden?

Heute morgen war der Selbstmörder aus der 13 dran. Seine gellenden Schreie ließen mich die Ohren zuhalten. Schon seltsam: erst will er sterben, hat das Leben satt. Und dann geht es schief und sie kriegen ihn. Er wird verurteilt wegen Selbstmord. Egal, dass es nicht geklappt hat. Gesetz ist Gesetz. Man sollte nun meinen, heute hat er bekommen, was er sowieso wollte. Warum also seine Weigerung? Schwäche?

Ich will immer noch. Ich bekomme, was mir zusteht. Ich hätte sogar "Verbrennen" angekreuzt, wenn es das gegeben hätte. Aber sie machen hier humanen Strafvollzug. Man kann nur wählen zwischen Spritze, Fallbeil, Gift und Gas. Und wenn ich mich damals verbrannt hätte? In dem Gartenhaus? Wie geplant? Nicht sie, sondern mich? Wenn nicht diese ganzen sinnlosen Zufälle passiert wären? Ich wollte sie doch gar nicht ... Ich wollte mich selbst ... oder?

Und jetzt stelle ich mir vor, einer hätte mich gerettet, bevor es vorbei gewesen wäre. Dann läge ich jetzt hier auf einem Krankenbett, voller Brandblasen, nässenden Wunden und rohem Fleisch, voller Verbände und Infusionsflaschen, und jeder Teil von mir nur unerträgliche Schmerzen. Sie würden mich am Leben halten, mit aller Macht, mit der ganzen Gewalt des hippokratischen Eids. Ich müsste darauf warten, bis ich dran käme, keinen Tag eher dürfte ich. Ich läge also auf dem Bett, und dann würde sie kommen. Nein, nicht sie, SIE würde nicht kommen, aber meine Putzfrau. Und sie würde mich sehen, denn nun wäre ich unübersehbar. Ich könnte nicht sprechen, mein Gesicht wäre nur noch ein bandagierter Klumpen, aber ich würde spüren, wie sie sich mir näherte und sich an mein Bett stellte, voller Mitgefühl, und auch ein bisschen Ekel dabei. Ich könnte sie hören, ein atemloses Seufzen, vielleicht wären da Tränen. Ganz langsam, ganz vorsichtig würde ihre Hand über meinem Arm schweben, der noch unversehrt wäre. Es würde Minuten dauern, bis sie sich traute, ihre Hand zu senken. Ich würde diesen Moment genießen, die Wärme ihres Körpers fühlen, und dann würden sich meine Härchen aufrichten, würden sie empfangen, ihre sorgenden Finger, würden sich sanft niederdrücken lassen, bis sich Haut auf Haut legte.

Von da an würde sie jeden Tag etwas länger bleiben, würde immer ihre Hand auf meine legen, würde mit mir sprechen, flüsternd, dass es die Anderen nicht hören, zärtlich, mitfühlend, liebevoll. Ich bliebe stumm, aber mit meinen restlichen Fingern würde ich ihr Zeichen geben. Trotz der Unerträglichkeit wäre ich glücklich.

Bis der Tag käme, der für jeden von uns kommt. Man würde mich mitsamt Bett hinunter schieben. Die Putzfrau würde heimlich weinen, niemand dürfte es wissen. Ein letzter Druck auf meinen Arm, ein letztes Zeichen meiner Hände, und dann, in meinem dunklen Kopf nur das dumpfe Rumpeln des schwer rollenden Bettes und der Klang sich öffnender und schließender Eisentore.

>>> Kommentar der Putzfrau:
Heut' war bei dem so ein nasser Fleck unterm Bett, wie Eiter. Als hätt' der was. Der gehört in Behandlung. Meine Meinung. <<<