Unsichtbar

Jo- unsichtbarIch bin unsichtbar. Ich glaube, ich könnte die Zelle verlassen, wenn ich wollte. Die Leute nehmen mich nicht wahr. Ich existiere nicht. Wenn morgens die Putzfrau kommt, dann erschreckt sie, wenn ihr Wischmob gegen meine Füße klatscht. Am Anfang bin ich immer auf die Pritsche gesprungen. Doch jetzt bleibe ich einfach im Raum stehen, stelle mich sogar so auf, dass sie mich sehen MÜSSTE. Aber sie blickt stur auf den Boden oder schwatzt mit ihren Kolleginnen draußen. Dann versuche ich mitzureden. Aber immer wenn ich einen Satz anfange, fängt auch sie an. Und sie redet einfach durch, trampelt meinen angefangenen Satz nieder wie Gras, latscht drüber weg, als wäre mein Satz nichts. Nichts jedenfalls, das man hören müsste. Luft.

Das ist nicht böse gemeint von ihr, nein, aus ihrer Sicht ist das völlig okay. Ich bin Nichts, nicht mal eine Eintagsfliege - wie die anderen hier. Warum sollten meine Sätze mehr sein? Darum warte ich jetzt immer auf den Schlag ihres Schrubbers. Wenigstens dann schaut sie mich an. Ihre Augen sehen meine Augen, sehen IN meine Augen und ich habe das Gefühl, dass es "Klick" macht. Plötzlich ist da ein Erkennen, so etwas wie: "Aha, da steht ein Mann!" Nichts Großartiges, kein Staunen, nur der kurze Schreck darüber, dass das Hindernis LEBT.

Sie ist hübsch. Aber sie denkt bestimmt nicht, dass ICH gut aussehe. Sie denkt auch nicht, dass ich schlecht aussehe. Sie denkt gar nicht so weit. Ein Mann. Fertig. Kein Attribut, kein "Aha, ein gut aussehender Mann", "ein netter Mann" oder "was für ein toller Mann!" Aber ich bin froh, wenn sie mich überhaupt ansieht. Dann weiß ich wenigstens, dass ich da bin und nicht einfach durch die Gitter gehen kann.

Letztlich bin ich ja hier drin wegen meiner Unsichtbarkeit. Mein ganzes Leben war mir das egal, aber dann kam die große Liebe. Und plötzlich war meine Unsichtbarkeit das Schlimmste. Wir waren ein echtes Liebespaar, doch sie hat immer durch mich hindurch gegriffen. Direkt ins Herz. Aua! Nur mein Blut konnte sie sehen. Also habe ich geblutet und ihr aus meinem Blut das Paradies gebaut. Und ich? Ich bin eine Plastikpuppe geblieben, am Ende ausgetrocknet, inmitten eines blutgetränkten Rosengartens.

Sie war das Gegenteil von unsichtbar. Sie war hübsch, wie die Putzfrau, nein, viel schöner. Sie hatte weiche, glatte Haut, einen kleinen sinnlichen Busen, und ihre Augen, Zähne, alles hat gestrahlt wie ein Leuchtfeuer. Und wir hatten auch viel ... Ihr wisst schon. Das Größte war für mich, sie zu beobachten, wie sie kam, wie sie hochging, dieser Moment aus Lust und Ekstase. Sie war dann ganz in ihrem Körper, ganz bei sich. Ich habe alles ausprobiert, war ausdauernd und voll auf sie eingestellt. Ich war ihr Glücksbringer. Es war umwerfend. Für mich.

Und für sie? War ICH es für sie? Nein. Ich habe mein Blut in sie gepumpt bis ich leer war. Und je leerer ich wurde, umso schöner wurde sie - und umso unsichtbarer ich. Bis sie mich gar nicht mehr gesehen hat. Jetzt bin ich hier. In meiner Zelle. Unsichtbar - aber das ist sie jetzt auch.

Jo, Zelle 42

>>> Kommentar der Putzfrau:

Die 42 ist ein komischer Typ. Die Zelle super. Geht am schnellsten. Kein Dreck, Bettzeug immer sauber, und die Klobrille erst: kann man von essen. Als wär' da keiner. Krieg ich ne Gänsehaut, ehrlich. <<<